Donnerstag, 14. April 2016

Stiller Fanatismus (17)

Caravaggio, Narziß
Für die Zuschreibung des Merkmals fanatisch hat sich also das Kriterienpaar:

„Bekenntnisglauben im Sinne des ‚Für-gut-haltens’ + Desinteresse an der Objektwelt“

sogar als gültiger - und „stärker“ - erwiesen als das Paar:

„Glauben im Sinne des Existenzurteils + veränderte Realitätssicht“.

Denn bei Fanatikern vom Schlage unseres Mannes auf der Mauer oder des Ökonomen Thiess Büttner (bei dem der Fanatismus nicht so offen zutage tritt wie beim ersteren) mag die Fähigkeit zur Realitätsprüfung auf der rein faktischen Ebene völlig intakt sein. Zumindest was jene Anteile der Realität betrifft, die den Inhalten ihres Bekenntnisglaubens nicht widersprechen. Ja, er mag diese seine Fähigkeit, die Realität der Fakten adäquat einzuschätzen, benützen, um seine fanatischen Ziele zu erreichen. Dennoch sind wir, angesichts seines radikalen Desinteresses an der Objektwelt, mehr als berechigt, ihn als Fanatiker zu bezeichnen.

Dieses gnadenlose Desinteresse an der Welt der Objekte verblüfft uns immer wieder auf’s neue. Und drängt uns, erneut nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit zu suchen, uns noch einmal zu fragen: was meinten wir eigentlich, als wir den Bekenntnisglauben – den Wesenskern des Fanatismus – mit Pfaller eine Identifizierung nannten?

Wenn wir Identifizierung ganz allgemein als Verlagerung des libidinösen Interesses ins Innere auffassen, als Wechsel des libidinösen Schauplatzes auf die innere Bühne - dann müßte unsere Frage lauten: was genau passiert auf  dieser inneren Bühne?

„Wenn das Ich die Züge des Objekts annimmt“, schreibt Freud in Das Ich und das Es, „drängt es sich sozusagen selbst dem Es als Liebesobjekt auf

[...], indem es sagt: ‚Sieh’, Du kannst auch mich lieben’.“1 

Wir haben hier die Formel für das, was wir erotischen Narzißmus2 nennen könnten: das durch die Identifizierung mit dem verlorenen (oder abgelehnten) Objekt veränderte Ich bietet sich selbst dem Es als Liebesobjekt an. Ersetzen wir in der zitierten Passage das Es durch das Über-Ich3 erhalten wir dagegen die Formel eines moralischen Narzißmus, die dem erotischen ähnlich ist. Im Fall des erotischen Narzißmus bietet sich das Ich dem Es als Liebesobjekt an – beim moralischen Narzißmus unterwirft es sich als („Liebes“)objekt dem Über-Ich. In beiden Fällen besetzt das Ich die freigewordene Stelle des verlorenen/abgelehnten äußeren Liebesbjekts.

So gesehen, drückt die gnadenlose Liebe, die unser Mann auf der Mauer für seinen Gott (den er bemerkenswerterweise, nach seinem Sohn Rahman nennt) empfindet, oder der Ökonom Thiess Büttner für die Regeln der Austeritätspolitik, das Bedürfnis aus, vom Über-Ich, dem sie sich beide ohne Rücksicht auf Verluste unterworfen haben, geliebt zu werden.

Aber: Gibt es zwischen Bekenntnisglauben und Fanatismus keinen Unterschied? Sind Bekenntnisgläubige immer auch fanatisch? 

wird fortgesetzt 

1) Sigmund Freud, Das Ich und das Es. In ders., Gesammelte Werke, Bd XIII, Frankfurt am Main 1999, S. 258

2) erotisch, wenn auch desexualisiert.

3) Freud betont im selben Text die enge Beziehung dieser beiden Instanzen und bezeichnet das Über-Ich „als Anwalt der Innenwelt [und] des Es“.

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