Donnerstag, 28. April 2016

„Obama ist nicht schwarz“ – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (5)

Karl Abraham
Der Berliner Psychoanalytiker Karl Abraham, ein Pionier der Psychoanalyse, beschreibt in seiner Schrift „Versuch der Entwicklungsgeschichte der Libido“ (1924) den Fall eines Patienten, der

„in seinen ersten Lebensjahren ein in jedem Sinne verwöhntes Kind [war]. [Von der Brust] [...] entwöhnte ihn [die Mutter] erst mit drei Jahren. Mit der Entwöhnung, die unter großen Schwierigkeiten erfolgte, traf nun zeitlich eine Reihe von Ereignissen zusammen, die den [...] Knaben plötzlich seines Paradieses beraubten. Er war bisher der Liebling der Eltern, der um drei Jahre älteren Schwester und der Kinderfrau gewesen. Die Schwester starb, die Mutter zog sich in eine [...] langdauernde Trauer zurück [...]. Die Kinderfrau verließ die Familie. Die Eltern [...] aber ertrugen das Leben in dem bisherigen Hause nicht, da sie sich beständig an das verstorbene ältere Kind erinnert fühlten. Man zog in [...] ein neues Haus. Mein Patient hatte ... alles verloren, was ihm bis dahin an Mütterlichkeit zuteil geworden war. Die Mutter hatte ihm zuerst die Brust entzogen und sich dann in ihrer Trauer auch psychisch gegen ihn abgesperrt. Schwester und Kinderfrau waren nicht mehr da, und selbst das Haus — ein so wichtiges Symbol der Mutter -  existierte nicht mehr.

[...] Im halberwachsenen Alter verlor der Patient seinen Vater [...] und lebte nun mit der Mutter, der er jetzt [wieder] liebevoll zugetan war. Aber nach kurzer Witwenschaft heiratete die Mutter und ging mit ihrem Mann für längere Zeit auf Reisen. Sie stieß damit die Liebe des Sohnes aufs neue von sich ab [...]

Nach einer Reihe von Jahren starb die Mutter des Patienten. Er weilte während ihrer letzten Krankheit bei ihr und hielt die Sterbende in seinen Armen. Die starke Nachwirkung dieses Erlebnisses erklärt sich [...] daraus, daß es eine vollkommene Umkehrung der unvergessenen Situation darstellte, in welcher der Patient als kleines Kind in den Armen und an der Brust der Mutter gelegen hatte.

Kaum war die Mutter gestorben, so eilte der Sohn in die [...] Stadt, in welcher er sonst lebte, zurück. Seine Affektlage aber war keineswegs die eines Trauernden, sondern gehoben, glückselig. Er schildert, wie er von dem Gefühl beherrscht war, die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich zu tragen. Eine innere Unruhe bezog sich nur auf die Beerdigung der Mutter. Es war, als störte ihn die Tatsache, daß der Körper der Mutter noch sichtbar im Sterbehause lag. Erst nach der Beerdigung konnte er sich dem ... Gefühl des unverlierbaren Besitzes der Mutter hingeben.“ 


Karl Abraham entwickelt hier – in einer geradezu poetischen Sprache – die psychoanalytische Theorie der Identifizierung - als Mechanismus der Verlustverarbeitung. Abrahams Patient reagiert auf den Verlust des mütterlichen Objekts indem er sich mit der Mutter identifiziert - sich die Mutter buchstäblich einverleibt: er trägt „die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich“. Identifizierung bedeutet hier zugleich Rückzug ins Innere: das Subjekt zieht sich, in Reaktion auf den Verlust des geliebten Objekts, auf die Bühne seines Inneren zurück – und wechselt dabei die Rolle. Es ist nun nicht mehr der Patient, der die Mutter liebt. Da er sich die Mutter „einverleibt“ hat, ist er selbst zur Mutter geworden - ist nun also selbst das geliebte Objekt. Er liebt nicht mehr, sondern wird geliebt. Und zwar von sich selbst.

Identifizierungen gehen daher – mit Freud zu sprechen – stets mit einer Zunahme an narzißtischer Libido auf Kosten von Objektlibido einher. Es kommt also – in unsere Alltagssprache übersetzt – zu einer Zunahme an Selbstachtung und Selbstwertgefühl auf Kosten des Interesses an der real existierenden Außenwelt. Nach dem Motto: „Ich habe nun das Objekt meiner Liebe unverlierbar in mir – das macht mich stark, weil unabhängig von der Welt da draußen“.

Lesen wir nun Debra Dickersens Satz (Schwarz heißt, daß jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt“) vor diesem Hintergrund, läßt sich jene Würde, die den Schwarzen unter Todesdrohung entzogen wurde, als (immer schon) verlorenes „äußeres Objekt“ auffassen, das hier zu einem inneren Objekt wird, mit dem sich Dickersen und andere „echte“ schwarze US-Amerikaner identifizieren - und das den Namen „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ trägt.

Wie jede Identität verlagert auch die Identität, die auf der Identifizierung mit der „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ gründet, das Interesse der Subjekte von der realen Außenwelt auf das imaginäre Innere. Dort bietet sie dem Subjekt - als Ersatz für das draußen, in der gesellschaftlichen Realität, fehlende Objekt „Würde“ - ein imaginäres inneres Objekt an, mit dem es sich identifizieren kann. Das Subjekt selbst wird also, anders gesagt, zu jener Würde, die es - in den Augen der rassistischen Gesellschaft – nicht hat.

wird fortgesetzt

Keine Kommentare: