Donnerstag, 17. März 2016

Stiller Fanatismus (12)


Fanatisch ist diese Haltung, sofern sie ganz abstrakt ist, wie Kaufmann sagt, also gegenstandslos. Und sich vom Bereich real existierender Objekte als solchem losgesagt hat, wie jener Mann auf der Mauer sich von der Liebe zu seinem Sohn.

Daß das Zuwiderhandeln gegen diese Regeln nicht bloß die Androhung des Staatsbankrotts zur Folge haben kann, sondern buchstäblich Tod und Zerstörung1), und daß es im Falle Griechenlands (wie so unterschiedliche Kommentatoren wie Slavoj Zizek2) und Paul Krugman3) übereinstimmend konstatiert haben) nicht um den rationalen Umgang mit einem Schuldner zu gehen scheint, sondern um die Bestrafung eines Schuldigen – das alles verweist auf den Über-Ich-Charakter dieser Regeln.

Das Über-Ich ist nicht einfach das verinnerlichte Gesetz. Es ist „gleichzeitig das Gesetz und seine Zerstörung“, sagt Lacan, um mit Nachdruck die „destruktive, rein unterdrückende“ Wirkung des Über-Ichs auf die „Moral des Neurotikers“ zu betonen, seinen „unsinnigen, blinden [wir möchten hinzufügen: fanatischen] Charakter des reinen Imperativs, der schlichten Tyrannei“4). Thiess Büttners Beharren auf die Fortsetzung der rigorosen Sparpolitik „selbst wenn [deren Abmilderung, Anm. von mir] zu einer Stärkung der griechischen Wirtschaft führen sollte“ ist prototypisch für diesen Fanatismus der Regeln – und des Über-Ichs.

Wie uns der Umgang europäischer, insbesondere deutscher, Politiker mit der griechischen Staatsschuldenkrise zeigt, sind heute weite Teile der politischen Elite nicht weniger von asketischen Idealen durchdrungen als „gewöhnliche Subjekte“. Scheint doch die Haltung jener Politiker weit weniger durch eigene (ökonomische oder machtpolitische) Interessen motiviert - als durch abstrakte Prinzipien und Regeln. Angesichts des Über-Ich-Charakters dieser Regeln und der destruktiven Auswirkungen des Beharrens auf ihnen, erscheint der Konflikt, den europäische - insbesondere deutsche - Politiker 2015 mit der griechischen Regierung austrugen, als Glaubenskrieg um Glaubensgrundsätze.


In seinem 1914 publizierten Text Zur Einführung des Narzißmus entwickelt Freud seine zweite Triebtheorie, unter anderem als Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Jung,. Hatte Jung in der Schrift „Symbole und Wandlungen der Libido“ die Libido als unspezifische seelische Energie aufgefaßt, den Begriff der Libido also entscheidend erweitert, erweiterte Freud, bei strikter Betonung des - grundsätzlich - sexuellen Charakters der Libido, ihren Wirkungsbereich.

In seiner ersten Triebtheorie hatte Freud zwischen den Sexualtrieben und den nicht-sexuellen Ich-Trieben (oder Selbsterhaltungstrieben) unterschieden. Der zweiten Triebtheorie liegt das Gegensatzpaar Ichlibido (oder narzißtische Libido) auf der einen und Objektlibido auf der anderen Seite zugrunde – die beide als grundsätzlich sexuell aufgefaßt werden.

Narzißtische Libido besetzt das Ich als libidinöses Objekt, Objektlibido die Objekte der Außenwelt. In beiden Fällen handelt es sich also um Libido, so daß sich narzißtische Libido und Objektlibido wie kommunizierende Gefäße verhalten: Objektlibido kann in narzißtische umgewandelt werden und vice versa - eine Zunahme an Objektlibido geht auf Kosten der narzißtischen Libido, und umgekehrt. Die – narzißtische - libidinöse Besetzung des Ich kann allerdings, im Unterschied zur Besetzung real existierender Objekte, in der Regel nicht bewußt als lustvoll erlebt werden. Hier begegnet uns also wieder der asketische Charakter des Narzißmus. 

wird fortgesetzt 

1) Eine 2014 publizierte Lancet-Studie berichtete über die tödlichen Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das griechische Gesundheitssystem 

http://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(13)62291-6/abstract 

2) 

http://www.zeit.de/2015/27/griechische-schulden-griechenland-europaeische-union/seite-2 

3) Es ist interessanterweise Paul Krugman, und nicht - der des Deutschen durchaus mächtige – Slavoj Zizek, der darauf hinweist, daß es eine Besonderheit darstellt, daß wir im Deutschen (im Unterschied etwa zum Englischen oder zum Französischen) für die moralische wie für die ökonomische Schuld denselben Begriff verwenden.

http://www.tagesspiegel.de/politik/interview-mit-oekonom-paul-krugman-griechenland-wuerde-es-jetzt-viel-besser-gehen/11406210-2.html

4) Jaques Lacan, Das Seminar Buch I: Freuds Technische Schriften, Weinheim/Berlin 1990, S. 134

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