Donnerstag, 11. September 2014

Warum wir immer dümmer werden (6)


Dre Traum der französischeen Bonne in Freuds "Traumdeutung"

Von den drei Kategorien Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, stünde uns, so Kluge, bloß die Vergangenheit zur Verfügung: Die Zukunft existiere nur als Möglichkeit, die Gegenwart sei ein unfaßbar kurzer, geradezu inexistenter Moment, bliebe nur - die Vergangenheit. Die Zukunft müsse daher „in den Vergangenheiten enthalten“ sein.

Ob es sich um die Planung eines Abendessens oder die Gründung eines Unternehmens handelt - kein Schritt in die Zukunft, ohne Anlauf in der Vergangenheit, ohne Rückgriff auf die in ihr enthaltenen Erfahrungen und Fehler.

Das scheint selbstverständlich. So selbstverständlich, daß uns die Kostümierungen der Revolutionäre, ihre Beschwörung der „Geister der Vergangenheit“ nicht mehr rätselhaft vorkommen – sondern banal.

Allerdings handelt es sich bei jenen revolutionären Regressionen in die Vergangenheit um alles andere als um die rationale Berücksichtigung vergangener Erfahrungen. Offenbar haben wir es mit Prozessen zu tun - irrationalen Prozessen -, die den revolutionären Subjekten eher passieren, als daß sie sie planend in Szene setzen würden. Und über die sie genauso wenig zu verfügen scheinen – wie Träumende über ihre Träume.
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Zwischen Freuds Theorie des Traums und dem Begriff der Regression existiert eine für unseren Zusammenhang interessante Beziehung. Im allgemeinen, und von fachspezifischen Verwendungen in Geologie, Mathematik etc. abgesehen, verstehen wir unter „Regression“ (und dieses „wir“ meint die breite Öffentlichkeit, aber auch die meisten Psychoanalytiker) den Rückfall in eine frühere, primitivere Entwicklungsstufe.

Aber Regression meint ursprünglich etwas anderes. Freud verwendet den Begriff erstmals im Kapitel VII der Traumdeutung (1900), um die „Psychologie der Traumvorgänge“ - so die Überschrift des Kapitels - zu erklären.

Ausgehend vom physiologischen Reiz-Reaktionsmodell des Reflexbogens faßt Freud jegliche psychische Tätigkeit als eine gerichtete auf: Innere oder äußere Reize würden zu Erregungen im Wahrnehmungssystem führen. Diese Erregungen würden dann verschiedene Systeme innerhalb des „psychischen Apparats“ (der hier eigentlich „psychophysischer Apparat“ heißen müßte) in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen und schließlich über das „System Bewußtsein“1 das „motorische Ende“ des psychischen Apparats erreichen – also zur Muskeltätigkeit führen. Beispiel: Mein Bewußtsein nimmt ein Hungergefühl als inneren Reiz wahr. Dieser von meinem Bewußtsein wahrgenommene Reiz mündet über Gedanken wie „Ich habe Hunger. Ich sollte jetzt kochen“ in motorische Tätigkeiten: Aufstehen, in die Küche gehen, Kochen etc.

Soweit die Situation im Wachzustand. Im Traum kommt es nach Freud zu einer Übersetzung von Gedanken - sogenannten Traumgedanken - in sensorische Bilder, so als hätten wir reale Sinneswahrnehmungen. Der Traum hat den Charakter einer Halluzination. Und diesen halluzinatorischen Charakter der Träume erklärt Freud wie folgt: Im Traum ist unseren Gedanken der Zugang zur Motorik (also zur  Muskeltätigkeit) versperrt. Wenn ich hungrig zu Bett gegangen bin, und mir im Traum der Gedanke kommt, in die Küche zu gehen und zu kochen, kann ich - solange ich schlafe und träume - nicht aufstehen, in die Küche gehen und kochen. Daher durchläuft die - durch Gedanken an die Küche und ans Kochen erzeugte - Erregung die Systeme des „psychischen Apparates“ in umgekehrter Richtung: Nicht „vorwärts“ (von der Wahrnehmung des  Hungergefühls zum Gedanken, in die Küche zu gehen und zu kochen – und von dort aus zu den motorischen Handlungen des Aufstehens, In-die-Küche-gehens und Kochens) sondern „rückwärts“: Vom Gedanken ans Kochen zum System Wahrnehmung - zum Beispiel zum „halluzinatorischen“ Traumbild eines opulenten Mahls.

Der Begriff Regression, wie ihn Freud in der Traumdeutung verwendet, meint diese Richtungsänderung.

wird fortgesetzt

1 dem Bewußtsein sind in diesem Modell u.a. die Systeme „Vorbewußt“ und „Unbewußt“ vorgeschaltet.

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