Mittwoch, 24. September 2014

Warum wir immer dümmer werden (8)


Lucius Iunius Brutus, erster Konsul der römiscehn Republik und Identifikationsfigur der französischen Revolution 

Wir haben dann die Möglichkeit in der Reihe aktueller und historischer revolutionärer Regressionen zwei Typen zu unterscheiden: Die Regression vom Typus Erinnerung – und die Regression vom Typus Halluzination. Je nachdem, ob die jeweilige „Beschwörung der Geister der Vergangenheit“ den symbolischen Charakter einer Vergegenwärtigung in der Erinnerung - oder den (scheinbar) realen Charakter der Gegenwärtigkeit einer Halluzination angenommen hat.

Die französischen Revolutionäre von 1789 identifizierten ihre 1792 nach der Kanonade von Valmy gegründete Republik mit der römischen res publica libera. Und sich selbst mit deren Bürgern. Aber so wie der typische Neurotiker weiß, daß sein Analytiker, der ihn an den Vater erinnert, nicht der Vater ist - so waren sich auch die französischen Revolutionäre  der Unterschiede zwischen ihrer und der antiken römischen Republik durchaus bewußt – etwa des Unterschieds zwischen der antiken Versammlungsdemokratie und dem modernen Repräsentativsystem. Die erste französische Republik war mit der alten römischen Republik identifiziert – aber nicht identisch. Es handelte sich um eine symbolische Identifizierung im Sinne der Regression vom Typus Erinnerung.

Die Kämpfer des Islamischen Staates im Irak und in Syrien betrachten ihren Heiligen Krieg hingegen nicht als einen, den Kriegen des frühen Islams bloß nachempfundenen, und sie sind mit den Gotteskriegern des frühen Islams nicht bloß identifiziert – sie sind islamische Gotteskrieger. Ihre Rückwendung zum frühen Islam ist nicht (oder nicht bloß) symbolisch – sondern real. Regression vom Typus Halluzination.

Diese beiden idealtypisch scheinenden Fälle - Französische Revolution und Islamischer Staat1 - sollten uns aber nicht dazu verführen, Revolutionen und ihre jeweilige Rückwendung zur Vergangenheit immer kategorisch entweder dem einen oder dem anderen Typus zuordnen zu wollen.

1979 spielten in der islamischen Revolution im Iran beide Dimensionen - Erinnerung und Halluzination - eine Rolle. Die linke und die bürgerliche Opposition gegen den Schah wollte die, von Khomeyni repräsentierte Rückwendung zum Islam als eine symbolische auffassen - dem Islam, als einer Art Symbol- und Bilderspeicher, „Namen, Schlachtparole [und] Kostüm“2 entlehnen. Als sich aber Khomeyni an die Spitze der revolutionären Bewegung setzte, sprengte der Rekurs zum Islam den Rahmen des Symbolischen, er wurde „real“. Halluzination statt Erinnerung.

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1 Das Phänomen Islamischer Staat als „Revolution“ zu bezeichnen, und ihn in einem Atemzug mit der Französischen Revolution zu nennen, ist fraglos problematisch. Ohne auf diese Problematik hier näher eingehen zu können, scheint mir der Eroberungszug des Islamischen Staates jedenfalls einen historischen Wendepunkt zu markieren – mit unabsehbaren regionalen und weltpolitischen Folgewirkungen.

2 Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt am Main 2007, S. 10

Montag, 22. September 2014

Warum wir immer dümmer werden (7)


Halluzination: Die Versuchung des Hl. Antonius, Detail, Isenheimer AltarMathias Grünewald, 1515

Der Begriff Regression, wie Freud ihn in der Traumdeutung verwendet, meint diese Richtungsänderung.

Regression in diesem speziellen Sinn findet aber nicht nur im Traum statt. Auch im Wachzustand muß eine Erregung (die von einer Wahrnehmung oder einem Gedanken ausgeht) nicht immer „vorwärts“ verlaufen, und in eine Handlung münden. Auch im Wachzustand kann ein Gedanke oder eine Wahrnehmung die entgegengesetzte – eben regressive - Richtung nehmen, und - statt zu einer Handlung zu führen - beispielsweise eine Erinnerung auslösen.

Die Struktur der Erinnerung ist demnach mit der Struktur des Traumes verwandt. Genauso wie (siehe oben) mit der Struktur der Halluzination -  des anderen möglichen Produkts einer Regression im Wachzustand.

Allerdings ist der Halluzinierende von der Realität seiner Halluzination überzeugt – genauso wie der Träumende von der Realität seines Traums. Wenn wir etwas erinnern, sind wir uns hingegen bewußt, daß das Erinnerte nicht real ist, nicht im „Hier und Jetzt“ stattfindet.

Psychoanalytikern ist die folgende, klassische Unterscheidung geläufig: Für den Neurotiker und die neurotische Übertragung ist die Zuschreibung „Sie erinnern mich an meinen Vater!“, an die Adresse des Analytikers, typisch - während der Psychotiker (i.e. der Wahnkranke) seinen Psychiater als seinen Vater halluzinieren und ihm zurufen könnte: „Du bist mein Vater!“

Fruchtbar für unseren Zusammenhang wird diese Unterscheidung, wenn wir all die Identifizierungen der Revolutionäre mit Gestalten vergangener Epochen nicht als Regression im Sinne eines „Rückfalls in primitivere Stufen“ auffassen - sondern als Regression im Sinne der Traumdeutung. Wir haben dann die Möglichkeit in der langen Reihe historischer und aktueller revolutionärer Regressionen zwei Typen zu unterscheiden: Die Regression vom Typus Erinnerung – und die Regression vom Typus Halluzination. Je nachdem, ob die jeweilige „Beschwörung der Geister der Vergangenheit“ den symbolischen Charakter einer Vergegenwärtigung in der Erinnerung - oder den (scheinbar) realen Charakter der Gegenwärtigkeit einer Halluzination angenommen hat.

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Samstag, 20. September 2014

Zizek in Teheran (81)


"Wie kann man auf Schyzerdütsch ficken?"

- ... manchmal reicht es, nur an sie zu denken. Dann - kommt der Zustand. Ich schäme mich. Dabei studiere ich die Schrift nicht aus Lüsternheit. Sie wissen, daß ich Geheimpolizist bin. Was Sie nicht wissen: Ich bin der Oberste Geheimpolizist von Teheran.

- Und dafür, daß Sie mich in Ihre Polizeiambulanz entführen, durch Ihre Geheimpolizistinnen, die Sie im Postamt postieren, dafür schämen Sie sich nicht?

- Polizeiambulanz?

Habe einen Moment lang vergessen, daß Polizeiambulanz ein Wort meiner Privatsprache ist.

Wurscht. 

- Und daß Sie sich mit nacktem Oberkörper in Ihrem Boudoir präsentieren, schämen Sie sich nicht?

Und daß Sie sich - Punkt, Punkt, Punkt - präsentieren, schämen Sie sich nicht’, ist nicht korrekt, LeserIn. I know. Aber wir sind zum einen: In der Literatur. Und hast Du, zum anderen, schon mal von Polizeideutsch gehört? Resp. von Polizeiteheranisch, was auf das Gleiche hinauskommt?

„Nein“, sagt Nehru, „das heißt: Ich habe mich geschämt. Aber ich hätte mich mehr geschämt, unendlich mehr, wenn ich es sagen hätte müssen.“

Merke, LeserIn: In sexualibus gebiert das Wort die Scham. Keine (echte, große) Scham - ohne Worte. Wie überhaupt: Keine Sexualität ohne Worte. Weshalb jener deutschsprachige Freund von mir ganz zu recht fragte: „Wie kann man auf Schwyzerdütsch ficken?“

Beinahe hätte ich statt ‚jener deutschsprachige Freund von mir’ – ‚jener deutschsprachige Freud von mir’ geschrieben – ein Freudscher, der aus

Freundschaft
Freud schafft.

Aber halt, LeserIn. Vor lauter Sexualität und Freud übersehen wir nicht nur die Literatur, sondern das wichtigste an der Realität. Was hat Nehru gesagt? Er ist der Oberste Geheimpolizist von Teheran. Kommt uns da eventuell - ein Verdacht?

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Mittwoch, 17. September 2014

Zizek in Teheran (80)




Zwischen einem Doppelbett mit weißen, gewölbten, 
immens hohen Bettdecken, die aussehen wie Wolken - Frau Holle, schau oba -,  zwischen einem Doppelbett und einem Schreibtisch (oder ist es eine Kommode?), auf dem ein Faltspiegel steht - es handelt sich also um einen Schminktisch -, zwischen einem Doppelbett und einem Schminktisch - sitzt, auf einem Hocker,

ein Mann.

Hohe Stirn,
Hakennase,
schwarze Augenbrauen, buschig,
weiß gesprenkelter Bart

- und das - unendlich sympathische - Lächeln eines Franziskaners, aus dem Süden Italiens. Soweit im Neonlicht und aus der Distanz im Faltspiegel erkennbar.

Ja, es ist Nehru.
  

Für mich ist nun subjektiv gewiss, daß mein Körper in Folge

Göttlicher Wunder

derartige Organe in derselben Weise zeigt, wie dies sonst nur beim weiblichen Körper der Fall ist. Ich fühle, wenn ich einen leisen Druck mit der Hand an einer beliebigen Stelle meines Körpers ausübe, unter der Haut Gebilde von faden- oder strangartiger Beschaffenheit; dieselben sind namentlich an meiner Brust, da wo beim Weibe der Busen ist, vorhanden. Durch einen auf diese Gebilde auszuübenden Druck vermag ich mir, namentlich wenn ich an etwas weibliches denke,

eine der weiblichen entsprechenden Wollustempfindung

zu verschaffen. Ich tue dies nebenbei bemerkt nicht etwa aus Lüsternheit, sondern bin zu gewissen Zeiten geradezu dazu genötigt, wenn ich mir Schlaf  -oder Schutz vor nahezu unerträglichen Schmerzen verschaffen will.

- Weil ... Sie anzurufen, und zu sagen, daß mich die Schrift, wenn ich mich länger mit ihr beschäftige, aber manchmal auch kürzer, manchmal reicht es, an sie zu denken ...

Bei ‚sie’ - als er ‚an sie zu denken’ sagt, hebt Nehru, der gerade und steif, wie ein Kerze, auf meiner Couch liegt (Ja, LeserIn - Szenenwechsel!), die Hände. Und wölbt sie. Um einen unsichtbaren Ball. Oder etwas anderes, unsichtbares, rundes.

- ... manchmal reicht es, nur an sie zu denken. Dann - kommt der Zustand. Ich schäme mich. Dabei studiere ich die Schrift nicht aus Lüsternheit. Sie wissen, ich bin Geheimpolizist. Was Sie nicht wissen: Ich bin der Oberste Geheimpolizist von Teheran.

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Donnerstag, 11. September 2014

Warum wir immer dümmer werden (6)


Dre Traum der französischeen Bonne in Freuds "Traumdeutung"

Von den drei Kategorien Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, stünde uns, so Kluge, bloß die Vergangenheit zur Verfügung: Die Zukunft existiere nur als Möglichkeit, die Gegenwart sei ein unfaßbar kurzer, geradezu inexistenter Moment, bliebe nur - die Vergangenheit. Die Zukunft müsse daher „in den Vergangenheiten enthalten“ sein.

Ob es sich um die Planung eines Abendessens oder die Gründung eines Unternehmens handelt - kein Schritt in die Zukunft, ohne Anlauf in der Vergangenheit, ohne Rückgriff auf die in ihr enthaltenen Erfahrungen und Fehler.

Das scheint selbstverständlich. So selbstverständlich, daß uns die Kostümierungen der Revolutionäre, ihre Beschwörung der „Geister der Vergangenheit“ nicht mehr rätselhaft vorkommen – sondern banal.

Allerdings handelt es sich bei jenen revolutionären Regressionen in die Vergangenheit um alles andere als um die rationale Berücksichtigung vergangener Erfahrungen. Offenbar haben wir es mit Prozessen zu tun - irrationalen Prozessen -, die den revolutionären Subjekten eher passieren, als daß sie sie planend in Szene setzen würden. Und über die sie genauso wenig zu verfügen scheinen – wie Träumende über ihre Träume.
*

Zwischen Freuds Theorie des Traums und dem Begriff der Regression existiert eine für unseren Zusammenhang interessante Beziehung. Im allgemeinen, und von fachspezifischen Verwendungen in Geologie, Mathematik etc. abgesehen, verstehen wir unter „Regression“ (und dieses „wir“ meint die breite Öffentlichkeit, aber auch die meisten Psychoanalytiker) den Rückfall in eine frühere, primitivere Entwicklungsstufe.

Aber Regression meint ursprünglich etwas anderes. Freud verwendet den Begriff erstmals im Kapitel VII der Traumdeutung (1900), um die „Psychologie der Traumvorgänge“ - so die Überschrift des Kapitels - zu erklären.

Ausgehend vom physiologischen Reiz-Reaktionsmodell des Reflexbogens faßt Freud jegliche psychische Tätigkeit als eine gerichtete auf: Innere oder äußere Reize würden zu Erregungen im Wahrnehmungssystem führen. Diese Erregungen würden dann verschiedene Systeme innerhalb des „psychischen Apparats“ (der hier eigentlich „psychophysischer Apparat“ heißen müßte) in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen und schließlich über das „System Bewußtsein“1 das „motorische Ende“ des psychischen Apparats erreichen – also zur Muskeltätigkeit führen. Beispiel: Mein Bewußtsein nimmt ein Hungergefühl als inneren Reiz wahr. Dieser von meinem Bewußtsein wahrgenommene Reiz mündet über Gedanken wie „Ich habe Hunger. Ich sollte jetzt kochen“ in motorische Tätigkeiten: Aufstehen, in die Küche gehen, Kochen etc.

Soweit die Situation im Wachzustand. Im Traum kommt es nach Freud zu einer Übersetzung von Gedanken - sogenannten Traumgedanken - in sensorische Bilder, so als hätten wir reale Sinneswahrnehmungen. Der Traum hat den Charakter einer Halluzination. Und diesen halluzinatorischen Charakter der Träume erklärt Freud wie folgt: Im Traum ist unseren Gedanken der Zugang zur Motorik (also zur  Muskeltätigkeit) versperrt. Wenn ich hungrig zu Bett gegangen bin, und mir im Traum der Gedanke kommt, in die Küche zu gehen und zu kochen, kann ich - solange ich schlafe und träume - nicht aufstehen, in die Küche gehen und kochen. Daher durchläuft die - durch Gedanken an die Küche und ans Kochen erzeugte - Erregung die Systeme des „psychischen Apparates“ in umgekehrter Richtung: Nicht „vorwärts“ (von der Wahrnehmung des  Hungergefühls zum Gedanken, in die Küche zu gehen und zu kochen – und von dort aus zu den motorischen Handlungen des Aufstehens, In-die-Küche-gehens und Kochens) sondern „rückwärts“: Vom Gedanken ans Kochen zum System Wahrnehmung - zum Beispiel zum „halluzinatorischen“ Traumbild eines opulenten Mahls.

Der Begriff Regression, wie ihn Freud in der Traumdeutung verwendet, meint diese Richtungsänderung.

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1 dem Bewußtsein sind in diesem Modell u.a. die Systeme „Vorbewußt“ und „Unbewußt“ vorgeschaltet.