Donnerstag, 28. November 2013

Warum uns Israel erregt (13)


Jenen „blanken Hass“ zog Natascha Kampusch auf sich, weil sie unserem Bedürfnis, sie als reines, heiliges Opfer zu imaginieren, zuwiderhandelte: Indem sie, so jedenfalls der Verdacht der Öffentlichkeit, (freiwillig) Sex mit Priklopil hatte.

Wenn aber ein Fall wie der Natascha Kampuschs das Bedürfnis auszulösen vermag, sie - auf der Ebene unbewußter Phantasien - zum rituellen Opfer zu machen, dann müßte dieses Bedürfnis auch, und erst recht, im Falle des Holocaust am Werk sein. Als, mit Lacan zu sprechen, monströse Befangenheit, die uns (oder manche von uns) veranlaßt, die im Holocaust vernichteten Juden als Ritualwert produzierende Opfer zu imaginieren. Genauer: Sie noch einmal als Ritualwert produzierende Opfer zu imaginieren. Denn, wie gesagt: Der Holocaust war bereits für die Nazis – und auch hier wiederum auf der Ebene unbewußter Phantasien - ein gigantisches Opferritual, an dessen Ritualwert wir unbeteiligte Nachgeborene ebenfalls teilhaben wollen (in einem gewissen paradoxen Sinn produzieren wir  in jener unbewußt phantasierten Opferweihe unseren Anteil an dem von den Nazis produzierten ursprünglichen Ritualwert - eine Art Ritualmehrwert - allerdings selbst).

Geeignet zur Produktion von Ritualwerten sind aber nur „opferwürdige“, i.e. geweihte, reine, unschuldige Opfer - auf keinen Fall (Kriegs)verbrecher. An der Quelle jener Unfähigkeit meiner, und nicht nur meiner, Vorstellungskraft, einen Juden/Israeli als (Kriegs)verbrecher zu imaginieren, stünde also das Bedürfnis, den

dunklen Göttern zu opfern [und dieses Opfern in der Phantasie, zwecks Produktion eines nachträglichen rituellen Mehrwerts, immer wieder zu wiederholen - Anm. von mir], [...] dem, in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen.

Der einen oder dem anderen mögen diese Überlegungen weit hergeholt erscheinen, und ähnlich schwer nachvollziehbar wie Lacans Rede von den dunklen Göttern - was dem Umstand geschuldet sein mag, daß sich die Phantasien, von denen hier die Rede ist, dem Bewußtsein entziehen.

Aber es gibt einen Autor, der jene vermuteten unbewußten Phantasien von Ritual und Opferweihe, die ich mühsam aus Indizien ableiten mußte, direkt und im hellen Licht des Bewußtseins entwickelt und ausformuliert hat. Die Rede ist von Ignaz Maybaum, amerikanisch-jüdischer, aus Wien gebürtiger Theologe, und einer jener Autoren, die den Holocaust aus jüdisch-theologischer Sicht zu erklären und einzuordnen versuchten.

Maybaum vertritt die These, daß "The innocent who died in Auschwitz, not for the sake of their own sins but because of the sins of others, atone for evil; they are the sacrifice which is brought to the altar and which God acknowledges favorably. The six million, the dead of Auschwitz an of other places of horror, are Jews whom our modern civilization has to canonize as holy martyrs; they died as sacrificial lambs because of the sins inherent in western civilization. Their death purged western civilization so that it can again become a place where men can live, do justly, love mercy, an walk humbly with God." (Ignaz Maybaum: A Reader, hrsg. von Nicholas de Lange, New York, 2001, S. 168; Hervorhebungen von mir)

Für bare Münze genommen ist Maybaums These schlicht verrückt. Aber sie hat als Wahnsinn Methode - oder insofern methodischen Wert, als sie uns hilft, das Bedürfnis, das sich in jener Unfähigkeit der Vorstellungskraft ausdrückt, besser zu verstehen: Daß die jüdischen Opfer des Holocaust als „sacrificial lambs“ gestorben sein sollen, erinnert uns natürlich an Christus als Erlöser. Als Gottes Opferlamm, das unschuldig stirbt, um uns von der Schuld zu befreien.

wird fortgesetzt

Montag, 25. November 2013

Zizek in Teheran (59)


The Spy Who Came In From The Cold
Das Gehalt einer Gefängnis-SozialarbeiterIn ist nur unwesentlich höher als das einer ArbeiterIn (das gilt in Teheran auch für Gehälter von KindergärtnerInnen, OptikerInnen, LehrerInnen und KellnerInnen), so
mag es in unserem Gefängnis nur wenige SozialarbeiterInnen geben, die nicht bereit wären, ab und an gegen Geld einen Auftrag entgegenzunehmen.

Aufträge sind in der Sprache der SozialarbeiterInnen des Habitat und anderer Gefängnisse jene Dienstleistungen eines Sozialarbeiters, die über den Katalog sozialarbeiterischer Dienstleitungen hinausgehen, die den Häftlingen ohnehin zustehen.

Will ein Häftling zum Beispiel seiner Tochter zu einem Posten verhelfen, im Staatsdienst, oder zu einem Studienplatz, und ist gezwungen, jemandem zu diesem Zweck Geld zu überweisen, Geld, das er zwar hat, aber nicht haben darf, weil er enteignet worden ist – aus solchen Konstellationen ergeben sich für uns Gefängnis-Sozialarbeiter Aufträge.

Bei den Aufträgen geht es fast immer um Geld, außer es handelt sich um einen politischen Auftrag. Obwohl bei politischen Aufträgen in der Regel auch Geld fließt.

Darin, ihre Geschäfte mit den Sozialarbeitern, also jene Aufträge, von der Gefängnisverwaltung unbemerkt anzubahnen, wie in Spionagefilmen, sind unsere Häftlinge geschickt, und als der Übersetzer mir jenen Kugelschreiber reichte, der sich von dem Kugelschreiber, den ich ihm gereicht hatte, nicht unterschied, wußte ich, daß der Kugelschreiber eine Botschaft enthielt.

Das Geheimtun wäre übrigens nicht notwendig. Die Gefängnisverwaltung weiß von den Aufträgen und hat nichts dagegen - im Gegenteil: Sie ist glücklich darüber, daß die SozialarbeiterInnen ihr geringes Gehalt durch diesen von den Häftlingen bestrittenen Zuverdienst aufbessern können.

Auch ich nehme Aufträge entgegen. Wegen des Geldes und aus einem anderen Grund - aber dazu später -, und weil mir nachgesagt wird, ein Vertrauter Namwars zu sein, von ihm protegiert zu werden usw. - d.h.: mehr Einfluß auf die Behörden, was die Wahrscheinlichkeit, daß ein Auftrag auch tatsächlich ausgeführt wird, natürlich erhöht, erhalte ich mehr Aufträge als die anderen, die ich aber, schon aus zeitlichen Gründen, nicht alle annehmen kann.

wird fortgesetzt 

Samstag, 9. November 2013

Zizek in Teheran (58)



Ich begegnete dem Übersetzer beim Tai Chi im Wald. In der Betonlichtung. Tai Chi ist einmal die Woche. Der Sportwart war krank. Ich vertrat ihn. Er ist vermutlich nebenbeschäftigt.

Die Betonlichtung ist eine Lichtung im Gefängniswald, und das Werk Namwars. Noch unter dem Kaiser hatte sich die Verwaltung bei Vater und den Behörden über das Dickicht zu beschweren begonnen. Nicht über das Dickicht der Bäume, vielmehr über die Rucksack- und Schubladenzellen und Baumhäuser und die künstlichen Inseln im Teich - aber vor allem über das Baumhäuser, Inseln, Rucksack- und Schubladenzellen untereinander und mit dem Boden verbindende Netz aus (zum Teil ein- und ausfahrbaren) Treppen, Strickleitern Rampen und (zum Teil beweglichen) Brücken.

Fünf Jahre nach der Revolution - der Justizapparat hatte wieder zu funktionieren begonnen, auch abseits der Revolutionsgerichte - erreichten die Gefängnisbürokraten die Errichtung der Lichtung. Den Aufrtag erhielt wieder Namwar. Ohne auf Bäume, Baumhäuser, Brücken, Rampen, Treppen Rücksicht zu nehmen, ließ er in der Mitte des Waldes eine quadratische Fläche roden, genau genommen ist es ein Kubus.

Sie verkleinerten den Teich, reduzierten die Anzahl der Inseln, und betonierten den Waldboden im Bereich der Lichtung, weshalb sie die Lichtung, die – wie bei Bosketten in der Gartenarchitektur des Barock - durch geometrisch exakt geschnittene Bäume eingefaßt wird, Betonlichtung nennen.

Ein paar der schönsten Baumhäuser fielen der Rodung zum Opfer. Das Spiegelbaumhaus verschonten sie aber, wegen der Touristen wahrscheinlich.

Der Übersetzer gehört zu einer Gruppe Älterer, die regelmäßig Tai Chi praktizieren. Die Jüngeren trainieren im Studio oder spielen Tischtennis. Oder Fußball. Nach dem Ende der Einheit, ich hatte bloß zugesehen, und war in Gedanken woanders, steht er abseits, zwischen zwei Kiefern, am Rande der Lichtung. Ich reiche ihm einen Bic-Kugelschreiber, und ein auf ein Clipboard befestigtes Formblatt. Die Inanspruchnahme einer Turneinheit muß vom Häftling bestätigt werden. So will es die Verwaltung.

Der Übersetzer nimmt den Kugelschreiber, einen orangen Bic mit blauer Schriftfarbe, unterschreibt aber nicht, sondern hält ihn mir vor die Nase, als hätte nicht ich ihm den Kugelschreiber gereicht, sondern er sei im Begriff, ihn mir zu reichen, steckt ihn in die Hosentasche seiner Trainingshose, nimmt aus der Brusttasche seiner Trainingsjacke einen zweiten Bic – der sich von dem Kugelschreiber, den ich ihm gereicht habe, nicht unterscheidet - zieht dessen Stöpsel heraus, mit der Leichtigkeit eines Tänzers oder Tai Chi-Meisters  (aber eigentlich erinnert mich diese Leichtigkeit an Pan Tau, einen aus der Zauberwelt stammenden, distinguierten Herrn, in einer tschekoslowakischen Serie der 1970er Jahre. Den liebten ich und meine Schul- und Straßenkameraden über alles) und mit rhythmischen Bewegungen des Zeigefingers zeigt er auf das Innere des Bics, und steckt den Stöpsel wieder hinein.

Daß er das Formblatt nicht unterschrieben hatte, fiel mir erst im Büro auf, woraufhin ich den Stöpsel wieder aus dem Bic herauszog, weniger elegant als der Übersetzer, im Inneren des Kugelschreibers fand ich, um die Miene gewickelt, ein Papier. Das überraschte mich nicht, etwas derartiges hatte ich erwartet – worauf ich noch zurückkommen werde. Das Papier ziehe ich mithilfe einer Pinzette heraus und entfalte es, ein kleines Blatt, natürlich, darauf ist folgendes zu lesen, d.h. zunächst ist gar nichts zu lesen, die Schrift ist außerordentlich klein, ich muß eine Lupe benützen:

Ich werde keine Drehbücher schreiben.

wird fortgesetzt

Sonntag, 3. November 2013

Warum uns Israel erregt (12)


Warum uns Israel erregt (12)

Die Sehnsucht nach jenem „herzhaften Mahl“, das nur dann zu haben ist, wenn wir „den Ritualwerten ihren angestammten Platz zurückgeben“, bildet die Quelle einer weit verbreiteten Form des Antikapitalismus. Eines Antikapitalismus der, unter Absehen von der Sphäre der Produktion, stets die Sphäre des Geld- und des Warenaustauschs im Blick hat - und die Sphäre des Konsums. Und der sich in Umverteilungsdebatten erschöpft, ohne sich für die Bedingungen zu interessieren, aus denen die Ungleichheit, die wir via Umverteilung abmildern wollen (und die man einmal Klassengegensatz nannte), überhaupt erst entsteht: Die Trennung der Arbeiter und Angestellten von den Produktionsmitteln, ihre Abfindung mit Lohn, die Profitmaximierung auf Seiten der Unternehmer.

Diesen antikapitalistischen Reflex, die Sehnsucht nach dem „herzhaften Mahl“ und das Bedürfnis, den von Lacan so genannten Ritualwerten ihren angestammten Platz zurück zu geben, teilen wir - mit den Nazis.

Eine bittere Pille, auf die Lacans dunkle Rede,

daß den dunklen Göttern zu opfern, etwas ist, dem, in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen

zu verweisen scheint. Aber ich war bereit, sie zu schlucken, hatte ich doch den Verdacht, daß zwischen jener monströsen Befangenheit, der nur wenige nicht erliegen und jener Unfähigkeit meiner – und nicht nur meiner - Vorstellungskraft ein Zusammenhang existieren könnte.

Nachträgliche Weihe: Der Fall Kampusch

Bevor das Tier, die Frucht, der Mensch, geopfert werden kann, muß er/sie/ es geweiht werden. Erst der Akt der Weihe macht das Objekt zu einem heiligen, opferwürdigen, das - mit Lacan zu sprechen - Ritualwert produzieren kann.

Weiter oben habe ich auf den Unterschied zwischen Opfer im ursprünglichen, rituellen und Opfer im alltagssprachlichen, unspezifischen Sinn (einfach ein Geschädigter, Opfer von, Gewalt, Folter, Naturkatastrophen etc.) hingewiesen. In bestimmten Fällen neigen wir aber dazu, Opfer im alltagssprachlichen Sinn wie Opfer im rituellen Sinn wahrzunehmen und zu behandeln.

Im März 1998 wurde die damals zehnjährige Natascha Kampusch vom arbeitslosen Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil entführt - und achteinhalb Jahre in seinem Haus im niederösterreichischen Strasshof gefangen gehalten. Im August 2006 gelang ihr die Flucht. Daraufhin beging Priklopil Selbstmord. Kampuschs Flucht löste ein beispielloses internationales Medienecho aus. Was am Fall Kampusch - in Zusammenhang mit unseren Überlegungen – interessieren sollte: Die Anteilnahme, die ihr anfangs entgegengebracht worden war, ist in Österreich - heute, sieben Jahre nach ihrer Flucht - vielfach in „blanken Hass“ (Augsburger Allgemeine vom 26. Februar 2013) umgeschlagen.

Warum, das scheint keiner so recht zu wissen. "Die Erklärungen der Psychologen", Kampusch sei zu stark, agiere zu selbstbewußt etc., überbieten einander an Trivilität, und sind unbefriedigend. Übersehen wird, daß die Öffentlichkeit erst dann irritiert zu reagieren begann, als die Frage auftauchte: Ob Kampusch – am Ende auch noch freiwillig! - Sex mit Priklopil gehabt haben könnte.

Unter bestimmten Umständen befällt uns offenbar das dringende Bedürfnis, Opfer im alltagssprachlichen Sinn, so etwa das Entführungsopfer Natascha Kampusch, nachträglich, in einem imaginären Akt zum - rituellen - Opfer zu weihen.

Die Erklärung der Trivialpsychologen, Kampusch schlage blanker Hass entgegen, weil sie sich nicht wie ein „reines“ Opfer verhalte, macht Sinn, wenn wir „rein“ anders verstehen als jene Psychologen es meinen: „Rein“ nicht im Sinne von „ausschließlich“, sondern im Sinne von „rituell rein“: Geweiht, heilig „unschuldig“. Im Fall Kampusch heißt das: „Rein von sexuellem Begehren“.

Die Reihenfolge im Procedere des rituellen Opferns - ein Objekt wird zuerst geweiht, und durch den Akt der Weihe heilig, und ist erst dann opferwürdig – wird hier umgedreht: Zuerst wird jemand – im alltagssprachlichen Sinn und ohne rituelle Weihe – zum Opfer, also zum Geschädigten. Erst dann wird die oder der Geschädigte in einem Akt nachträglicher, imaginärer Weihe zum Opfer im rituellen Sinn - zum Ritualwert produzierenden Opfer.

Jenen „blanken Hass“ zog Natascha Kampusch auf sich, weil sie unserem Bedürfnis, sie als reines, heiliges Opfer zu imaginieren, zuwiderhandelte: Indem sie, so jedenfalls der Verdacht der Öffentlichkeit, (freiwillig!) Sex mit Priklopil hatte.

wird fortgesetzt