Mittwoch, 16. Oktober 2013

Warum uns Israel erregt (10)



Thrift, thrift, Horatio!

Wenn es sich beim Holocaust, wie Lacan behauptet, um ein Opfer für die „dunklen Götter“ gehandelt haben soll, eben um ein Opfer im wörtlichen Sinn, wenn wir uns also innerhalb der Logik  des Opfers bewegen, dann bewegen wir uns - doch wieder - innerhalb der Logik der Funktionalität: Die Nazis opferten die Juden, um einen (ihnen selbst unbewußten) Zweck zu erreichen.

Um welche Art „Zweck“ es sich dabei handeln könnte, verrät Lacan allerdings nicht. Zumindest nicht hier.

Slavoj Zizek, ein Lacanianer (und Hegelomarxist!), auf dessen Texte mich ebenfalls mein Lehranalytiker aufmerksam gemacht hatte, vergleicht Lacans Redeweise in seinen Seminaren mit der eines Patienten auf der Couch:

In den Seminaren verhält sich Lacan wie der Analysand: er assoziiert [...]  improvisiert, läßt etwas aus und macht Sprünge, spricht sein Publikum an, das damit in die Rolle einer Art kollektiven Analytikers versetzt wird.“

Lacans Schriften hingegen würden sich umgekehrt wie die Interventionen eines Analytikers lesen. Konzentriert, zweideutig, fromel-, oft auch orakelhaft, würden sie den Leser in die Position eines Analysanden versetzen, den die Deutungen seines Analytikers ratlos und mitunter verzweifelt machen würden.

So seien beide, Schriften und Seminare, unverständlich auf je eigene Art. Zizek empfiehlt, bestimmte Seminare zusammen mit den ihnen entsprechenden Abschnitten der Schriften zu lesen - mit dem Ziel gegenseitiger Entschlüsselung.

Aber so wie uns - um beim Vergleich des Lacans der Seminare mit einem Analysepatienten zu bleiben - der Einfall eines Analysanden in Sitzung A den Schlüssel zum Verständnis seines Einfalls in Sitzung B liefern kann, so können sich auch zwei – thematisch (scheinbar) verschiedene - Stellen in den Seminaren Lacans „gegenseitig entschlüsseln“.

Wie das funktionieren könnte, demonstriert Zizek selbst, indem er jene Passage über den Holocaust in Lacans Seminar XI mit einer Stelle aus dem Seminar VI Desir et son interpretation konfrontiert (Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M. 2001, S.16). Lacan zitiert dort Hamlets ironisch-verzweifelte Klage darüber, daß die Hochzeit seiner Mutter knapp nach dem Begräbnis seines Vaters stattfgefunden habe (Hamlet, 1. Akt, 2. Szene):

Horatio:
Ich kam zum Begräbnis Deines Vaters.
Hamlet:
Mach Dich nicht lustig über mich, mein Freund,
Ich glaub, Du kamst zur Hochzeit meiner Mutter.
Horatio:
Es stimmt. Sie folgte knapp darauf.
Hamlet:
Man spart, man spart, Horatio [Thrift, thrift, Horatio]! Die Fleischpasteten
Vom Leichenschmaus bot man zur Hochzeit kalt an.

und meint:

Dieser Begriff [thrift] (Lacan verwendet das Wort im englischen Original – Anm. von mir) erinnert uns daran, daß bei den Bequemlichkeiten, welche die moderne Gesellschaft zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten hervorgebracht hat, etwas in der Marx’schen Wirtschaftsanalyse, der für das Denken unserer Zeit dominanten, übersehen wurde – etwas, dessen Stärke und Ausmaß wir in jedem Augenblick empfinden, nämlich die Ritualwerte [Hervorhebung von mir] (zit. nach Zizek, ebd.).

Nach Zizek ist „thrift“ für Lacan nicht bloß eine unspezifische Form der „Sparsamkeit“, sondern die „Weigerung das Trauerritual angemessen durchzuführen“ (Ebd.). Diese spezifische Art von Sparsamkeit schmälere „den Wert des Rituals“. Und das Ritual, so Zizek weiter, sei

letztlich das Ritual des Opfers, das den Raum für intensiven Konsum öffnet. Nachdem wir den Göttern [...] geopfert haben, dürfen wir selbst ein herzhaftes Mahl zu uns nehmen und uns an den Resten gütlich tun (Ebd. S.20).

wird fortgesetzt

Keine Kommentare: