Mittwoch, 25. September 2013

Warum uns Israel erregt (7)


Giorgio de Chirico, Das Rätsel der Ankunft und des Nachmittags

Das Treffen mit U. dauerte bis spät in die Nacht. Ich ging mit dem Vorsatz zu Bett, mich am Morgen an die Lektüre des Antisemitismus-Kapitels der Dialektik der Aufklärung zu machen. In der Nacht hatte ich einen Traum, von dem ich nur Bruchstücke erinnere. Er spielte in einer kargen, unwirklichen Landschaft, wie in den Bildern Giorgio de Chiricos. Eine unendlich lange Menschenschlange führte zu einem unendlich langen Tisch - oder einer Art Theke. Die Menschen waren dunkel gekleidet und hielten blaue Luftballons in der Hand. Es hieß, der Jüngste Tag sei nahe. Jemanden flüsterte: „Es ist das Seltsame Opferritual“. Mehr erinnere ich nicht.

Am nächsten Morgen fand ich in der Dialektik der Aufklärung das folgende:

„Der Antisemitismus ist [...] ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde.“ (Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S.180)

„[Der Jude] ist in der Tat der Sündenbock. Nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem umfaßenden Sinn, daß ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird.“(Ebd., S. 183)

„Den Juden, mit dieser ihrer Schuld beladen, [...] schlagen sie ans Kreuz, endlos das Opfer wiederholend, an dessen Kraft sie nicht glauben können.“(Ebd., S.177)

Erst beim Lesen dieses Satzes wurde mir bewußt, daß ich in der Nacht jenen Traum geträumt hatte, in dem vom Seltsamen Opferritual die Rede war. Das kam mir, angesichts der zitierten Passagen, ein wenig unheimlich vor, und - wie immer, wenn ich eine unheimliche Begegnung mit dem vorgeblich Übersinnlichen habe - mußte ich an meinen Lehranalytiker denken, der für alles vorgeblich Übersinnliche eine nüchterne Erklärung hatte. Nach einigem Überlegen fand auch ich eine nüchterne Erklärung für meinen vorgeblich prophetischen Traum: Ich hatte die Dialektik der Aufklärung, einschließlich des Antisemitismus-Kapitels, ja vor Jahren schon einmal gelesen - und auch wenn ich mich an dessen Inhalt kaum mehr erinnerte, war der nächtliche Vorsatz, am nächsten Morgen die Dialektik der Aufklärung (noch einmal) zu lesen zusammen mit der - unbewußten - Erinnerung an das Antisemitismus-Kapitel wohl die Quelle für die Rede vom seltsamen Opferritual in dem Traum.

Eine Kette von Assoziationen führte mich von der Dialektik der Aufklärung und meinem Lehranalytiker - einem Lacanianer - zu Jaques Lacan, der in Zusammenhang mit dem Holocaust ebenfalls von einem – „den dunklen Göttern“ dargebrachtes -„Opfer“ spricht (Jaques Lacan, Das Seminar. Buch XI (Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse), Weinheim und Berlin 1987).

U. hatte mir vorgeworfen, die Juden nur als Opfer zu sehen, was ich empört verneint hatte. Bei „Opfer“ hatte ich, und wie ich vermute auch U., einfach nur an jemanden gedacht, dem irgendwie etwas Böses widerfährt. Opfer im ursprünglichen und wörtlichen Sinn ist aber jemand, oder etwas, der, oder das, zum Objekt eines Tausches wird: Ich opfere etwas (den Göttern, einem Menschen, einem Ziel), in der Hoffnung, dafür etwas anderes - wertvolleres - zu erhalten. Könnte es nicht sein, fragte ich mich, daß wenn wir  - wie Horkheimer/Adorno und Lacan es getan haben -, das Wort „Opfer“ in dieser Weise wörtlich nehmen, der Antisemitismus, der Holocaust, Israel und auch jene Unfähigkeit meiner Vorstellungskraft in einem anderen Licht erscheinen? 

wird fortgesetzt

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