Sonntag, 5. Mai 2013

Warum uns Israel erregt (1)

Eine Unfähigkeit der Vorstellungskraft

Am Tag der Veröffentlichung des sogenannten Goldstone-Reports über den Gaza-Krieg traf ich meinen israelisch-österreichischen Freund, nennen wir ihn U., einen Schriftsteller, in einem Wiener Café. Israel hatte im Dezember 2008 auf den jahrelangen Beschuß seiner Städte durch Katjuscha- und Qassam-Raketen mit der Militäroperation „Gegossenes Blei“ reagiert, und diese bis zur Verkündigung eines Waffenstillstands durch die Hamas im Januar 2009 fortgesetzt. Der südafrikanische Richter Richard Goldstone hatte den Konflikt im Rahmen einer United Nations Fact Finding Mission untersucht, und sowohl den israelischen Streitkräften als auch palästinensischen Kämpfern vorgeworfen, Kriegsverbrechen - möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit - begangen zu haben.

Während mir U. alles das - und manches andere über den Nahostkonflikt - auseinanderlegte, er war im Begriff einen Artikel über den Goldstone-Bericht zu verfassen, machte ich eine Entdeckung, die mich verwirrte - und die ich meinem Freund sofort mitteilte.
Meine Mitteilung hatte den Charakter einer Beichte.

"Irgendwie gewußt" hätte ich es schon immer, aber erst jetzt, während er, U., über den Goldstone-Bericht gesprochen hätte, sei mir in aller Deutlichkeit klar geworden, daß mir bereits die Vorstellung, ein Jude oder eine Jüdin hätte ein „gewöhnliches“ Verbrechen begangen, äußerst schwer fallen würde. Die Vorstellung, eine Jüdin oder ein Jude hätte ein Kriegsverbrechen begangen, sei mir gänzlich unmöglich.

Um mir vor meinem Freund, dessen enzyklopädisches Wissen berüchtigt ist, keine Blöße zu geben, betonte ich, daß ich von meiner Vorstellungkraft gesprochen hätte, nicht von meinem Wissen. Und daß ich sehr wohl wüßte. Daß ich wüßte, daß Juden – wenn überhaupt eine Gemeinschaft - keine Gemeinschaft von Heiligen seien. Daß es, wie unter allen Menschen, auch unter Juden „solche und solche“ gäbe. Daß ich, nur um Beispiele zu nennen, die Ausstellung Kosher Nostra des Jüdischen Museums in Wien über jüdische Gangster in den Vereinigten Staaten gesehen. Daß ich über den „jüdischen Frauenhandel“ im Galizien des 19. Jahrhunderts gelesen hätte: (Vorwiegend) jüdische Frauenhändler hatten damals (vorwiegend) jüdische Frauen in alle Welt verkauft. Nicht zu vergessen die israelische Kahan-Kommission von 1982, von der ich wüßte, daß sie Ariel Sharon eine „persönliche Verantwortung“ beim Massaker im Palästinenserlager Sabra und Shatila attestiert hatte.

Je sais bien, mais quand-même - ich weiß zwar, aber
dennoch. (1)

Du betrachtest die Juden eben als Opfer, meinte U., und bist nicht in der Lage, sie anders als als Opfer wahrzunehmen.

Als dermaßen banal, um nicht zu sagen abgedroschen, wollte ich mir mein Problem dann doch nicht abqualifizieren lassen. Auch Schwarze, konterte ich, würden unterdrückt und verfolgt. Vom österreichischen Alltagsrassismus, dem meine afrikanischen Patienten - durchwegs traumatisierte Kriegs- und Folteropfer - ständig ausgesetzt seien, könnte ich ein Lied singen. Dennoch bereite es mir keine Schwierigkeiten, mir Menschen mit schwarzer Hautfarbe als „gewöhnliche“ Verbrecher vorzustellen. Oder auch, wie etwa im Fall kongolesischer Warlords, als Kriegsverbrecher.
Und warum in die Ferne schweifen: Nach U.s und meinem Dafürhalten seien die Palästinenser in den besetzten Gebieten Opfer der israelischen Okkupationspolitik. Auch in diesem Fall hätte ich aber kein Problem, einen Palästinenser als „gewöhnlichen“ oder als Kriegsverbrecher zu imaginieren.

Warum könne ich das aber gerade bei Juden nicht?

- Das soll ich Dir sagen? Du bist Analytiker.

- Und Du bist Schriftsteller.

wird fortgesetzt

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(1) In seinem Aufsatz Je sais bien, mais quand-même setzt sich der französische Psychoanalytiker Octave Manoni mit der von Freud beschriebenen Logik des „Fetischisten“ auseinander, der das, was er weiß, zugleich leugnet.


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