Donnerstag, 30. August 2012

Zizek in Teheran (9)

Die Narzisse löst eine Assoziationskette aus, eine Kaskade, an Erinnerungen. Prasselt auf mich. Und am tiefsten Punkt steht ein Name. Narges.

Nostalgie, sagte mein Lehranalytiker Kinz, in Graz, aber nicht in der Analyse, sondern im Rainer, wo wir uns zu treffen pflegten, um zu kiffen, Billard zu spielen, und die Bürokratie des Instituts für Steirische Psychoanalyse zu erledigen (das Institut bestand aus meinem Lehranalytiker Kinz, meiner Wenigkeit und einem jungen Theologen, der in der Lehranalyse dekompensierte, d.h. er verlor, in der Analyse, den Glauben an Gott, weshalb er glaubte, er müsse wahnsinnig sein, und den wir wöchentlich in der Anstalt besuchten), Nostalgie, sagte mein Lehranalytiker Kinz, sei ein mißverstandenes Wort.

Schon Johannes Hofer, der das Wort Nostalgie 1688 aus νόστος – Heimkehr - und άλγος – Schmerz - zusammengesetzt hätte, ein Schweizer, um eine Krankheit von Schweizern zu bezeichnen, die sich von ihren Heimatkantonen entfernt hatten, schon Dr. Hofer, so mein Analytiker Kinz, hätte das von ihm erfundene Wort mißverstanden (und war im Übrigen der Meinung, Nostalgie befalle ausschließlich Schweizer).

In Wahrheit, so mein Analytiker Kinz, sei Nostalgie der Schmerz des Heimkehrenden, und nicht wie Dr. Hofer das von ihm erfundene Wort mißverstanden hätte - und alle Welt seither mißverstehe -, die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Oder der Heimat.

Was schmerzt den Heimkehrenden?

Narges heißt in der Sprache Teherans Narzisse.

Eine Stelle an der Außenwand des Containers, der kein Container ist, sondern ein Portacamp (das Wort hatten wir seit Jahren nicht mehr) erregt meine Aufmerksamkeit, oder ist es die Narzisse, die erregt ist? Ich errege sie jedenfalls nicht mehr.

Weshalb ich mich von ihr formlos abwende, und gehe zu jener Stelle, an der Außenwand des Containers, der kein Container ist, sondern ein Portacamp, in dem sich meine Ordination für Psychoanalyse befindet.

Es ist noch da. Und in Konturen erkennbar. Das Gekritzel an der Außendwand. Des Portacamps. Das Narges anlocken sollte. Oder abekeln.

Daß der Heimkehrende heim kommt, und es ist alles, noch immer, an seinem Platz, das ist Nostalgie. Der Schmerz des Heimkehrenden.

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Samstag, 25. August 2012

Zizek in Teheran (8)

9

Das Internat islamischer Mädchen

Es ist nicht wahr, daß ich in den Stunden, die für den Gefängnisarzt immer noch reserviert sind, immer nur auf der Couch liege. Und an den Text denke. Im Garten, in dem der Container steht, in dem sich meine Praxis für Psychoanalyse befindet, läßt es sich bestens flanieren. Am Container vorbei führt ein Weg zur hinteren Mauer des Grundstücks. Ein Kiesweg. Ich treffe eine Narzisse und verneige mich und murmele, zur Begrüßung, einen Text bestehend aus Stichworten. Um Narzissen anzusprechen, verlasse ich mich auf das Pflanzenwissen der Mutter und natürlich auf Freud.

Narzisse - Osterglocke - Familie der Amaryllisgewäche - 1560 bis 1620 - Orientalische Phase der Gartenkultur.

Die echte Narzisse ist die Dichternarzisse.

- leitet sich Narzisse vom griechischen νάρκειν ab – Narkein – Betäuben - Narkose.

Und natürlich hat Freud wieder recht. Der sagte, daß die Texte der Dichter Narkotika sind. Deren Zwiebel enthalten Narcissin und Narcipoetin, zwei giftige Alkaloide. Narkose. Ich will ein Narko-Poet sein.

Der Anblick der Narzisse löst eine Assoziationskette aus, eine Kaskade, an Erinnerungen, prasselt auf mich. Und am tiefsten Punkt der Kaskade steht Narges.

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Dienstag, 14. August 2012

Zizek in Teheran (7)


8

Die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen

Der Gefängnisarzt kommt seit Wochen nicht mehr. Ich habe aber seinen Platz nicht vergeben. Am Montag, Mittwoch, Freitag lege ich mich, um Punkt vier, auf die Couch, und schließe die Augen.

Die durch den Läuterungsprozeß gereinigten Seelen steigen zum Himmel und gelangen dadurch zur Seligkeit. Die Seligkeit besteht in einem Zustand ununterbrochenen Genießens, verbunden mit der Anschauung Gottes. Für den Menschen würde die Vorstellung eines ewigen Nichtstuns etwas Unerträgliches bedeuten, da für ihn erst die Arbeit das Leben süß macht. Allein man darf nicht vergessen, daß die Seelen etwas anderes sind als der Mensch. Für die Seelen bedeutet das fortwährende Schwelgen im Genuß und zugleich in den Erinnerungen an ihre menschliche Vergangenheit das höchste Glück. Dabei sind sie in der Lage, im Verkehr untereinander ihre Erinnerungen auszutauschen, und vermittelst göttlicher Strahlen von dem Zustand auf der Erde lebender Menschen, für die sie sich interessieren Kenntnis zu nehmen.

Zurückzuweisen ist die Vorstellung, daß das Glück der Seelen durch die Wahrnehmung, daß ihre noch auf der Erde lebenden Angehörigen in unglücklicher Lage sich befinden, getrübt werden könnte. Denn die Seelen besitzen zwar die Fähigkeit, die Erinnerung an ihre eigene menschliche Vergangenheit zu bewahren, nicht aber neue Eindrücke, die sie als Seelen empfangen, auf eine irgend in Betracht kommende Zeitdauer zu behalten.

Dies ist die natürliche Vergeßlichkeit der Seelen, welche neue, ungünstige Eindrücke alsbald bei ihnen verwischt.

Auf einmal erinnere ich den Text, des Gefängnisarztes. Der natürlich nicht der Text des Gefängnisarztes ist, sondern der eines, wenn auch intelligenten, Verrückten. Hat es bloß des leeren Platzes des Gefängnisarztes bedurft, auf der Couch, um die Wolke zu vertreiben, die mich jedes Mal, wenn er von den Wolken und Vögeln und Gott sprach, umhüllt hat? Der Gefängnisarzt selbst war die Wolke.

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