Samstag, 9. Juni 2012

Zizek in Teheran (1)

Graz, Herrengasse 


1

Nachdem er sich hingelegt hat, nimmt sich der Gefängnisarzt Zeit, um sich auf der Couch einzurichten. Klopft das Kissen zu recht, fährt sich mit den Händen an der Hose entlang. Dann durchs Haar. Es fällt ihm ein, daß er die Schuhe ausziehen will. Wie oft habe ich gesagt, daß er die Schuhe nicht ausziehen braucht. Daß er glaubt, für diese Art Analyse, sich  auf der Couch einrichten zu müsen, ärgert mich, und ich betone diese Art Analyse, sofern man ein Wort, das man denkt, betonen kann. Ich ärgere mich, und er beginnt schon zu reden.  

Die gewunderten Vögel belästigen ihn. Sie sind aus den Resten ehemaliger Vorhöfe des Himmels gebildet, also selig gewesener Menschen. Sie können nichts als sinnlos auswendig gelernte Phrasen herzusagen. Jedesmal, wenn sie die eingebläuten Phrasen abgeleiert haben, gehen sie mit den Worten Verfluchter Kerl! in seiner Seele auf, den einzigen Worten, deren sie, um eine echte Empfindung auszudrücken, fähig sind. Den Sinn der Worte verstehen sie nicht, haben aber eine Empfänglichkeit für den Gleichklang der Laute. Es macht für sie wenig Unterschied, ob man sagt:

Santiago oder Karthago

Chinesentum oder Christentum

Abendrot oder Atemnot

Ackermann oder Ariman

„Ariman?“


2

Als ich nach Teheran zurückkehrte, litt ich an einer Bronchitis, die ich bei einer Nutte geholt hatte. In Graz, aber bei keiner gewöhnlichen. Ingeborg. Wie alle Grazerinnen mit germanischem Namen,
Gudrun,
Gerlinde,
Friedrun,  
statt eines anständigen christlichen, stammt Ingeborg aus einer Faschisten-Familie. Hör auf mit Deinem Faschimus! - mit meinem? - höre ich den Leser, der Du glaubst, über Graz, oder Dich, etwas zu wissen. Was nicht heißt, daß nicht auch die anderen, mit den christlichen Namen,
Franziska,
Gabriela,
Johanna,
von Faschisten abstammen. Auschließen sollte man in Graz überhaupt nichts. Auch in Teheran nicht. Aber ich meine, wenn ich keine gewöhnliche Nutte sage, etwas anderes.

Vor Jahren als sie studierte, Chemie oder Biologie, es interessierte mich nicht, jobbte sie im Sommer als Eisverkäuferin, in der Fußgängerzone. Ich flanierte. Was man damals noch tat. Oder es schien so. Ich schleckte am Pistazieneis, als sie sagte: Ich schreibe. Später veröffentlichte sie Romane. U.a. Die Menschenverwalterin. Ich führte neben meiner Existenz als Analytiker, was ich damals nicht war, ein Leben als Schriftsteller, von dem niemand wußte. Die einzige Ingeborg.

Als ich sie kennenlernte, hatte Ingeborg einen Freund, ich durfte nur küssen, und ein paar Mal steckte ich ihr den Finger in den Arsch, nicht ohne pistaziengrün zu ihren Augen zu sagen. In Teheran gibt es keine Fußgängerzone, aber eine Viertelmillion Nutten. 90% der Frauen in Teheran sind Nutten, behauptet die Schwester, sagt aber Huren. Oder Prostituierte.

Später wurden wir ein Liebespaar. Mit Unterbrechungen dreieinhalb Jahre, mehr Unterbrechungen als Jahre, wenn man ein Doppelleben führt, lebt man länger.

So ein Schwachsinn, sagt Mutter, während die Schwester ihr
iPhone zückt und den Standard-Artikel findet, in dem das mit den
90% behauptet worden ist. Lass sehen, sagt Mutter. Die Schwester liest: 90% aller Prostituierten in Teheran haben Matura.

Nach Ablauf der dreieinhalb Jahre hatte sie einen anderen. Ich gehöre Ihm, sagte sie, nur Ihm. Er war verheiratet. Dann verfiel sie auf den Gedanken, daß sie ihm so sehr gehöre, daß er das Recht hätte, sie zu verdingen. Verdingen sagte sie, niemals verkaufen. Ich kaufte sie, in unregelmäßigen Abständen, daher die Bronchitis, die holte ich am Abend vor meiner Rückkehr nach Teheran.

In den dreienhalb Jahren, in denen wir, mit Unterbrechungen, ein Liebespaar waren, redeten wir ständig über Romane, die wir schreiben wollten, gemeinsam - oder jeder für sich und die Romane sollten aufeinander verweisen. In den Romanen ging es immer um Graz, und um Teheran, Graz hieß Miesen, aber Teheran Braunland.

Wann immer Ingeborg in den dreieinhalb Jahren in meinen Armen lag, mit Unterbrechungen, nannten wir sie braunländisches Mädchen, und stellten uns vor, daß sie mich an der Grenze zwischen Teheran und Nicht-Teheran, sollte ich je nach Teheran zurückkehren, in Empfang nehmen würde.

wird fortgesetzt

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