Donnerstag, 27. Dezember 2012

Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten - und die eigene auch nicht (5)


Dennoch enthält Ates‘ falsche Verknüpfung (der „sexuellen Revolution“ mit dem „Islam“) eine Wahrheit: Die Identifizierung mit dem Islam scheint in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit eine ungleich „vollere“ zu sein als es etwa in Europa - mit dem Christentum - der Fall ist *.

Dies manifestiert sich am eindrücklichsten im Umgang bestimmter islamisch geprägter Gesellschaften mit dem Phänomen der Apostasie, des Abfalls vom Islam. Im Iran und in Afghanistan droht Apostaten die Todesstrafe. In Malaysia gilt jeder Malaye von Geburt an als Moslem. Fällt er vom Islam ab, verliert er nach malayischer Verfassung die Staatsbürgerschaft. In einem Rechtsgutachten der angesehenen Kairoer Al-Azhar-Universität heißt es über einen Moslem, der - nachdem er eine Christin geheiratet hatte - zum Christentum konvertiert war:

„ … Da er vom Islam abgefallen ist, wird er zur Reue aufgefordert. Zeigt er keine Reue, wird er islamrechtlich getötet. Was seine Kinder betrifft, so sind sie minderjährige Moslems. Nach ihrer Volljährigkeit sind sie, wenn sie im Islam verbleiben, Moslems. Verlassen sie den Islam, werden sie zur Reue aufgefordert. Zeigen sie keine Reue, werden sie getötet. Und Gott der Allerhöchste weiß es am besten.“

In dieser Logik existiert ein Moslem allein in der Sphäre des Islams. Verläßt er jene Sphäre, hört er buchstäblich auf zu existieren.

Die „volle Identität“ zwischen der Gesellschaft und dem Islam ist dennoch - imaginär. Daß Apostasie in islamisch geprägten Gesellschaften überhaupt existiert, und, etwa im Iran, dem religiösen Establishment großes Kopfzerbrechen bereitet, beweist zur Genüge, daß es sich bei der „vollen Identität“ um Ideologie handelt. Zwar tief verwurzelt, dennoch aber Ideologie.

Diese Ideologie zu thematisieren, ihr zu widersprechen und sie zu brechen, wäre in einer islamisch geprägten Gesellschaft die erste und vornehmste Aufgabe einer Revolution, die ihren Namen verdient. Eine „Revolution“ ­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­aber, die dieser Ideologie blind sich fügt, hat verloren, noch bevor sie ausbricht.


Verkehrte Welt: Von Bischöfen und Imamen


Als sich der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, in einem
BBC-Interview im Februar 2008 für die Integration "bestimmter, vor allem familienrechtlicher, Aspekte der Scharia in das britische Zivilrecht" aussprach, fragten sich viele, was ausgerechnet den Primas der anglikanischen Kirche bewogen haben mag, der Einführung von Scharia-Gerichten in Großbritannien das Wort zu reden.

Der Verdacht, daß Williams „bestimmte Aspekte der Scharia“ sagte, jedoch an „bestimmte Aspekte“ des britischen Zivilrechts dachte,die bei bestimmten Anhängern seiner eigenen Kirche Unbehagen auslösen - an das Recht auf Abtreibung etwa -, scheint berechtigt. Ob der Bischof die Moslems nun vorgeschoben hat, um Religionspolitik in eigener Sache zu betreiben, oder nicht – so wie Ates schreibt auch Williams den Moslems jene „volle Identität“ zu, die es ihnen unmöglich machen soll, Moslems und zugleich Rechtssubjekte eines säkularen Staates zu sein. Eine Zuschreibung, die auch von den Kritikern Williams nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde.

Was bei den von Williams losgetretenen Debatten kaum zur Sprache kam: In Großbritannien existieren Scharia-Gerichte bereits seit 1982. Ein Lokalaugenschein der Oberösterreichischen Nachrichten beim Vorsitzenden der britischen Scharia-Räte in London ergibt - wie nicht anders zu erwarten - „Überraschungen“:

„ … Viel bürgerliches Reihenhaus-Idyll – so spießig sieht es aus vor der Tür einer Einrichtung, die viele Briten ganz oben auf die Liste der gefühlten Staatsfeinde setzen würden. Daß Mohammed Raza, Vorsitzender der britischen Scharia-Räte, hier im Londoner Westen hauptsächlich muslimische Frauen aus ihren Ehen befreit, wäre für sie die zweite große Überraschung. Die dritte ist der Imam selbst: Ein moderater, höflicher Mann mit einem großen Wunsch: ‚Es wäre prima, wenn mein Job überflüssig werden würde‘, sagt er, ‚wenn der Staat die religiöse Ehe der Frauen auflösen und ich den Rat schließen könnte.‘ […] Über 300 Frauen rufen jedes Jahr allein die Dienste des Imam Raza an. Sie alle haben das gleiche Problem: Sie können sich zwar am [zivilen, britischen (Anm. von mir)] Familiengericht scheiden lassen, für eine Trennung nach muslimischen Regeln brauchen sie jedoch das Einverständnis des Ex-Gatten. ‚95 Prozent der Fälle sind so gelagert und meistens weigert der Mann sich, zu unterschreiben‘, sagt Raza. ‚Wir setzen dann einen Scheidungserlass auf […] und lösen die Ehe auf.‘“ (Oberösterreichische Nachrichten, 15. Dezember 2009)

Die „Überraschung“ besteht darin, daß wir jene - vom Primas der Anglikanischen Kirche, Seyran Ates und auch den Oberösterreichischen Nachrichten postulierte - „volle Identität“ nicht einmal beim Vorsitzenden der britischen Scharia-Gerichte vorfinden. Offensichtlich hat dieser „moderate und höfliche“ Mann kein Problem mit der Vorstellung, daß Moslems zugleich Rechtssubjekte eines säkularen Staates sein können. Mehr noch: In seinem Bemühen, die Regeln der Scharia -
etwa die, daß die Frau für eine Trennung das Einverständnis ihres Gatten benötigt - mittels der Scharia selbst außer Kraft zu setzen (solche Tricks sind in der Scharia genauso möglich, und üblich, wie im Steuerrecht jedes beliebigen Landes), orientiert er sich offensichtlich an modernen familienrechtlichen Standards.

Verkehrte Welt: Rowan Williams konstatiert bei Moslems einen fundamentalen Konflikt "zwischen der Loyalität zum Staat und der Loyalität zur Religion", und gründet auf dieser Annahme seinen Wunsch nach der "Einführung bestimmter Aspekte der Scharia in das britische Zivilrecht". Dort aber, wo sich Williams' Wunsch bereits verwirklicht findet, sind wir mit dem exakten Gegenteil jener Annahme konfrontiert: Mit einem Scharia-Rats-Vorsitzenden, der - umgekehrt - dem britischen Zivilrecht die Hoheit über bestimmte Aspekte der Scharia übertragen würde (und damit etwa die Möglichkeit, nicht nur die zivile, sondern auch die religiöse Ehe moslemischer Frauen aufzulösen), und - um bestimmte Prinzipien des modernen Familienrechts zur Geltung zu bringen - die Scharia sich selbst austricksen läßt.
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* Den Begriff "volle Identität" verdanke ich Isolde Charim. Das Ressentiment gegen Moslems, so Charim, sei nicht, wie vielfach behauptet, "der neue Antisemitismus". Während der traditionelle Antisemit den Juden vorwerfe, keine "echten Österreicher/Deutsche" zu sein, schreibe der heutige Rechtsextreme den Moslems, ganz im Gegenteil, "volle Identität" zu - und beneide sie insgeheim darum.
Vgl. Charim, Isolde "Volle Identität gegen nicht-volle", in R. Just, G.R. Schor (Hg.): Vorboten der Barbarei, Hamburg: Laika, 2011: 11-16 

wird fortgesetzt

Mittwoch, 26. Dezember 2012

Zizek in Teheran (21)

Schirin sitzt wieder links von mir. Auf dem Ohrensessel. Wie die Grazer sagen. Süß ist das Lächeln der Mädchen in Teheran. Ich sitze noch immer, d.h. wir, in einer Art Zuschauerraum, und schauen zu einer Bühne hinauf. Zusammen mit meinem Feauteuil, Du erinnerst Dich, LeserIn, bin ich ja vorhin versunken.

Süß ist das Lächeln der Mädchen in Teheran. Islamisch oder nicht. Als sei gar nichts gewesen.
„Es war ja auch nichts. Sie glauben doch nicht, daß ein islamisches Mädchen Erlebnisse hat.“
„Ich bin Analytiker. Erzähl keinen Schmonzes.“

Augen, so groß wie Schirins, wollen nicht sehen, sondern sagen. Je größer desto mehr. Als tausend Worte. Jetzt sagen sie: Schau! Ich schaue. Aber es  ist nicht mehr Schirin. Sondern links von mir - Du errätst es, LeserIn? Nein? – sitzt Narges.





Der Abstand zwischen dem vorangegangenen Absatz und diesem hier ist Absicht. Da gibt es nichts mehr zu sagen.
Oder: Kennst Du Carnival Of Souls? Ein No-Budget-Horrorfilm, 1962, mit Candace Hilligoss in der Rolle der Organistin Mary Henry. Sie befindet sich mit zwei anderen jungen Frauen in einem Auto, das in einen Fluß stürzt. In Lawrence/Kansas. Drei Stunden nach dem Unfall taucht sie verstört aus dem Fluß auf. Was passiert ist, und wie sie es geschafft hat, als Einzige zu überleben, weiß sie nicht mehr. Weder das Unfallauto noch die Leichen der beiden anderen werden gefunden. Mary zieht nach Salt Lake City und arbeitet als Organistin in einer Kirche. Es geschehen seltsame Dinge. Zeitweise scheinen die Anderen Mary weder zu sehen noch zu hören. Am Ende, nachdem Mary spurlos verschwunden ist, wird das Unfallauto gefunden. Darin sieht man, in der letzten Einstellung, die Leichen von drei jungen Frauen. Darunter die von Mary Henry. Die übrigens nach dem Unfall, also den ganzen Film lang, von einer Erscheinung verfolgt wird. Einem … Hast Du schon einmal eine Leiche gesehen? Ohne Vorbereitung? Plötzlich?

Leichengeruch ist immer süßlich. Moschusartig, vermischt mit dem Geruch von alterndem Fleich. Eine Zeile des Hafez-Gedichts habe ich unterschlagen.

Eh'der Frühwind endlich löste
jenes Stirnhaars Moschusquell,
Wie viel Blut troff nicht in Herzen
aus dem duftumringten Bug

Es reicht. Ich erhebe mich aus dem Feauteuil. Gemächlich. Feierlich. Und renne. Ein viktorianisches Wohnzimmer ist es nicht mehr. Auch keine Märchengrottenbahn.

wird fortgesetzt

Dienstag, 25. Dezember 2012

Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten - und die eigene auch nicht

Donnerstag, 17. Jänner 2013, 19:00 Uhr 
Hauptbücherei am Gürtel, 1070 Urban-Loritz-Platz 2a

http://www.buechereien.wien.at/mobil/aktuell
Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten - und die eigene auch nicht
Drei Vorträge von Helmut Dahmer (Soziologie und Philosophie), Jeanne Wolff-Bernstein (Psychoanalytikerin), Sama Maani (Autor, Psychoanalytiker und Psychiater) - Moderation: Andreas Kurz (Autor, Regisseur) - und anschließende Podiumsdiskussion.

Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber einem Fremden, dass man ihm signalisierte, er sei ungeachtet seiner Herkunft in unserer Gesellschaft willkommen. Fremdenfeindliche Ressentiments hingegen waren immer mit der Betonung der Herkunft des Angefeindeten verknüpft.
Heute scheint aber auch der Weltoffene, wenn es um Fremde geht, nicht ohne ausdrückliche Betonung von deren Zugehörigkeit zu einer „anderen Kultur“ auszukommen. Mehr noch: Als Mensch mit Migrationshintergrund wird der Fremde seine Zugehörigkeit zu einer „fremden Kultur“ auch in den Folgegenerationen nicht los.


Welches Konzept von Gesellschaft steckt hinter der Inflation des Begriffs „Kultur“ in der aktuellen Debatte („fremde Kultur“, „unsere Kultur“, „Leitkultur“, „Multikulturalität“ etc.)? Welche Art Unterschiede sollen „kulturelle“ Unterschiede denn sein? Und welche Konsequenzen haben sie? Gelten für Angehörige „anderer Kulturen“ andere Maßstäbe hinsichtlich Demokratie, Freiheit und Recht? Was wurde aus der Idee der Gleichheit aller Menschen?

Helmut Dahmer, geboren 1937, studierte Soziologie und Philosophie bei Helmuth Plessner, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In den Jahren 1968-1992 redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er zum Gründungsbeirat des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 1974-2002 lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 2002 lebt er als freier Publizist in Wien. Publikationen: Libido und Gesellschaft (1973, 1982); Pseudonatur und Kritik (1994); Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert (2001); Divergenzen (2009); Die unnatürliche Wissenschaft (2012); Interventionen (2012).

Jeanne Wolff Bernstein, Lehranalytikerin und Lektorin an der Sigmund Freud Universität/Wien und an der New York University, Post-Doctoral-Program. Sie hat bis 2010 in San Francisco/Berkeley als Psychoanalytikerin gearbeitet und am Psychoanalytic Institute of Northern California unterrichtet. Publikatonen über Psychoanalyse, Kunst, Film und Fotografie, sowie über Jacques Lacan. 2008 war sie Fulbright Fellow am Sigmund Freud Museum, Wien.

Sama Maani, geboren in Graz, Studium der Medizin in Wien und der Philosophie in Zürich, Lebt als  Autor, Psychoanalytiker und Psychiater in Wien. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (u.a. kolik und wespennest) und Anthologien. 2004 Preis des Literaturwettbewerbs schreiben zwischen den kulturen. 2008 österreichisches Staatsstipendium für das Romanprojekt Ungläubig.

In Kooperation mit dem Politischen Salon und dem Verein Literatur und Theorie.

Freitag, 21. Dezember 2012

Was heißt Moderne? - von Helmut Dahmer





 




  



Anläßlich der Wiederholung unserer Diskussions-Veranstaltung „Warum wir über den Islam nicht reden  können“  

http://samamaani.blogspot.co.at/2012/03/wrum-wir-uber-den-islam-niht-reden.html 

in Graz, stellte ein Teilnehmer die Frage: "Was heißt Moderne?" - und behauptete in weiterer Folge, die Moderne habe ihren Ursprung in dem von Mohammad in Medina des 7. Jahrhunderts gegründeten Gemeinwesen.

Im folgenden einige Gedanken des Soziologen Helmut Dahmer, einer der Vortragenden des Abends, zur Frage  

Was heißt „Moderne“?

Antwort auf die Frage eines gelehrten, gläubigen Muslims

„Modernisierung“ nennen wir den sozialhistorischen Prozess, der mit der Auflösung der traditionalen, auf Grundeigentum beruhenden alteuropäischen Wirtschaftsgesellschaft begann. Im Laufe von Jahrhunderten löste sich die feudale Ständegesellschaft auf: Die Individuen verselbständigten sich gegenüber ihrer Herkunftsgruppe (Stämmen und Familien) - und deren Glaubensüberzeugungen. Als formell selbständige „freie Lohnarbeiter“ waren sie von ihren Subsistenzmitteln (Boden, Nahrungsmittel, Rohstoffe und Werkzeuge) getrennt; als mobile, „überschüssige“ Arbeitskräfte strömten sie dorthin, wo es Arbeit für sie gab – in die städtischen Manufakturen und Industriebetriebe im eigenen Land oder in überseeischen Kolonien. „Gemeinschaften“, denen man durch Geburt angehört, verloren nach und nach ihren Nimbus und ihre Bindungskraft. Loyalitäts- und Pietätspflichten gegenüber Familie, Sippe und Religionsgenossen wurden unter Markt-, also Konkurrenzverhältnissen relativiert; hier konnte man sich nur mit Hilfe von individuellen Vorteils-Kalkülen und durch die Mitgliedschaft in solidarischen Interessenverbänden behaupten. Die (relativ) autonom gewordenen Individuen, die mit allen anderen konkurrierten und lernten, auf ihren Vorteil zu schauen, verhielten sich gegenüber den traditionellen Religionen mit ihren Jenseitsverheißungen zuerst skeptisch, dann zunehmend gleichgültig. Im Zuge der „Aufklärung“ wurde die Herkunft der Gottesvorstellungen aus Wunsch- und Angstphantasien kenntlich, die „heiligen“ Schriften galten nicht mehr als „Offenbarungen“, sondern als grandiose Dichtungen, die religiösen Rituale als Dressurmittel.

         In traditionalen Gesellschaften waren Individuen, die sich von ihren Herkunftsgruppen lossagten oder aus ihnen ausgeschlossen wurden, nicht überlebensfähig. Die Etablierung von Marktverhältnissen setzt die Existenz solcher „vereinzelter Einzelner“ voraus. Die Marktgesellschaft eröffnet ihnen neuartige Überlebenschancen und macht tendenziell „alle“ zu arbeitsuchenden abhängig Beschäftigten. Bei dem Übergang von "traditional" verfassten (durch direkte Herrschaft und Zwangsmoral zusammengehaltenen) Gesellschaften zu modernen, in denen die vereinzelten Einzelnen sich nur indirekt durch Tausch- oder Marktbeziehungen vergesellschaften, handelt es sich um einen Prozess, der in Europa Jahrhunderte in Anspruch genommen hat und dort – ebenso wie in den außereuropäischen Gesellschaften, die zeitverzögert von ihm erfasst worden sind – auch gegenwärtig noch andauert. Dieser Modernisierungsprozess hat die Voraussetzungen für die Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, für die Trennung von Wissenschaft und Religion und von Staat und Kirche, für die Teilung der Gewalten und (schließlich auch) für die parlamentarische Demokratie geschaffen. Jede dieser Errungenschaften wurde in langwierigen Kämpfen gegen die Interessen privilegierter Gruppen und ihrer Ideologen durchgesetzt, und jede dieser Errungenschaften muss auch im heutigen Europa verteidigt werden.

         Modernisierung bedeutet die Auflösung traditionaler Lebenswelten. Teile der davon betroffenen Bevölkerungen und ihre Ideologen versuchen angesichts solcher „Entfremdung“ an ihrer überkommenen Sozialethik festzuhalten, ja, deren drohenden Verfall durch eine Rückkehr zu jenen Verhältnissen aufzuhalten, unter denen sie entstand. Dieser Sprung in die Vergangenheit wird so wenig gelingen wie der Versuch „fundamentalistisch“ orientierter Regime, bestimmte Errungenschaften der Moderne, vor allem die heutige Kriegs- und Produktionstechnik, zu übernehmen und im Übrigen an der religiösen Weltanschauung des 7. Jahrhunderts festzuhalten. Der Anschluss an die Moderne, die Integration der Weltbevölkerung in den kapitalistischen Weltmarkt wird auch im 21. Jahrhundert nicht harmonisch verlaufen, sondern Verelendung, Kriege, Massaker und Terror zeitigen. Wir aber, Erben der Aufklärung, vergessen darüber nicht, dass die kapitalistische nur die erste historische Gestalt einer weltumspannenden Gesellschaft ist, nicht ihre letzte.

Donnerstag, 20. Dezember 2012

Der Maulwurf - von Gerhard Hammerschmied

Anläßlich einer Lesung in Klagenfurt hatte ich das Glück, Gerhard Hammerschmied kennenzulernen. Hammerschmied ist Philosoph, Autor, Theologe, Romanist, und einer der vielseitigsten real existierenden Geistesmenschen. Der Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt ist die aktuelle französische Philosophie. Er hat unter anderem über die Phänomenologie Husserls, Lacans Religionsphilosophie, Kafkas Hermeneutik des ungeschriebenen Gesetzes, aber auch über Fragen der Entwicklungspolitik (Väter. Sonne. Kapital. Philosophische Variationen über Herrschaft, Armut und Entwicklung. Passagen 1996 sowie Milde Gabe. Bruchstücke einer Philosophie der Spender. Passagen 1998) publiziert.
In der Burggasse (Drava 2012), einem vielschichtigen, erschütternden Text, erzählt Hammerschmied die Geschichte seiner Familie und deren jüdischen Nachbarn während der nationalsozialistischen Herrschaft in Judenburg.

Im folgenden Hammerschmieds wunderschön kafkaeske Parabel

Der Maulwurf

Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, hielt seine schützende Hand über dieses Institut, das einige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, in einer Betonwüste lag. Es hielt den an sie grenzenden Wohnsilos den Hintern hin, so formulierte es der an Musils Worten entlang lebende Germanist.

Die Maulwürfe lehren die Schmetterlinge das Fliegen, so ist es, seufzte der Biologe, die Vögel das Innerste und Dunkelste des Universums. Der Bücherkundige stimmte lebhaft zu: Da sie blind sind wie die Fledermäuse, meinten sie, dass alles in der Ordnung sei. Nach dem Genuss einiger Regenwürmer werfen sie ihre Hügel und zeigen so der Welt, die es zu diesem Behufe geben musste, welche Bedeutung sie hätten. In der Nacht, wenn keine Gefahr droht, lieben sie auch den Wind, der um ihre kleinen Ohren pfeift; dann kehren sie zufrieden zurück in ihr Erdloch und, begegnen sie einer Wühlmaus, grüßen sie diese ehrerbietig, diese kluge Kennerin aller Gänge und Winkel. Die Blinden haben jedoch andere Geheimnisse als wir sie haben.

Fabelwesen sind keine Tiere, aber auch keine Menschen, und kleine Häufchen machen sie alle, sonst wären sie ja Götter. Sie winkten der Kellnerin energisch zu, ein Getränk reicht eben nicht, um den harten pädagogischen Alltag hinter sich zu lassen. Ein Maulwurf, der eine Wühlmaus werden wollte, der Alkohol schreibt die schönsten Geschichten. Er hatte die schärfsten Zähne und scharte viele kleine, schwächliche Artgenossen um sich, die sich auch ruhig beißen ließen, wenn es galt, diesen fetten, aufgeblähten Kriecher zu verteidigen. In scharfen Winternächten durften sie dann in seiner Nähe die Wärme genießen. Einige hatten dadurch äußerst geruhsamen Grabdienst, andere schätzten die Anerkennung, wenn sie es schafften, ganz allein einen großen Hügel zu gestalten, zur Ehre des Großen. Und man wusste ja außerdem nie, welche Geheimnisse er plötzlich hervorbringen könnte, zwischen zwei fetten Regenwürmern, die man ihm zutrug, neben den aller Erde entbehrenden Klagen seiner Gegner. Die Wühlmaus, gab er vor, mit der er die prächtigsten Beziehungen unterhielt, von Erdwesen zu Erdwesen, erzähle ihm alles, was zum besseren Leben für alle führen könne, und zur Ordnung. Er gab es weiter, an alle, die ihn hören wollten, damit der innere Maulwurf in jedem von ihnen sehend werde. Friedvoll vereint saßen sie im Gemeinschaftsloch, die Schnauze zu ihm erhoben, die Ohren gespitzt, die feinen Härchen der Weisheit entgegengestreckt und manch unerbitterlicher Maßnahme.

Die Tür des kleinen vorstädtischen Gasthauses ging auf, herein kamen drei Kollegen, die man herzhaft grüßte, als sie sich am anderen Ende des Lokals niederließen.
Die Stimmen der beiden wurden leiser und etwas eindringlicher, so als ob man sich am Sarg eines mäßig geliebten Nachbarn unterhielte. Ein tiefer Schluck, und noch einer, nachdem man die Gläser aneinander zum Klingen brachte.

Wie willst du nun mit deiner Geschichte erklären, dass die Wühlmaus diesen fetten Maulwurf, der nicht einmal der Maulwurfsprache mächtig ist, aus diesem seinem Loch entfernte? Sie wusste doch immer schon, dass er keinem einzigen Regenwurm selber nachging? Und dass der alte, frühere, so nett und freundlich war, seinen Untertanen persönlich die Gänge zuwies. Warum sollte diese dumme Maus dem Vielfraß einen neuen Gang zuteilen, der erst mühsam verbreitert werden musste? Es muss gebissen werden und gefressen. Deine Geschichte ist unter der Erde, noch ehe der letzte Satz geschrieben ist.

Die Kollegen am anderen Ende der Wirtshauswelt drehen ihre Köpfe wie Uhus in der Nacht ihrer Wahrheit, krächzen und halten Ausschau nach treulosen Maulwürfen und Wühlmäusen, suchte der Germanist nach einer Wendung in seiner Fabel.

Sie werden sich überfressen, damit endlich Ruhe herrscht.
Und Gerechtigkeit.
Ja Gerechtigkeit.
Und Kollegialität.
Sie lachten. Ein Bier noch.
Auch Schüler kamen in das Lokal, gingen artig zum Dichter, zum Biologen, grüßten so herzlich als es ihr junges Alter zuließ.
Einen Maulwurf entfernt tuschelte es in die Rauchschwaden der Gäste hinein.

Zwei Schüler gingen, einer entschloss sich, auf das freundliche Handzeichen der beiden Kollegen hin, zu bleiben.

Das Übliche halt, doch kein Geschwätz, auch keine Zukunft, so wie sie die Alten haben wollen, nach all den Jahren und Prüfungen. Über andere sprach man nicht, es fehlte das Interesse. Kein Lob, kein Tadel.
Ein Maulwurf kroch in ihnen empor, der Germanist erzählte diese Fabel, die sich selbst in die Erde erzählte.

Eines Tages, versuchte sich der Schüler an dieser Geschichte, hielten die ausgemergelten und unterwürfigen Tiere Rat. Die alte und kluge Maulwurfsmutter mit besonders langen und empfindsamen Sinneshaaren verschaffte sich Gehör. Für nicht allzu lange Zeit arbeiteten sie noch mehr, bis an den Rand der Erschöpfung. Doppelt so viele Regenwürmer brachten sie dem alten Sack, der sie in seiner Gier verschlang und endlich zerplatzte. Die Soldaten des Alten brachen in feierliches Pfeifen aus, fielen den halb verhungerten Tieren in die Arme und bedankten sich. Sie genossen das Leben, Freude herrschte in den Gängen, bis der nächste kam.

Das ist doch traurig, mein Junge, geht es immer so weiter, in deinem Alter so große Weisheit. Es sind doch bloß Tiere. Also, genießen wir die Zeit, die dann bleibt, sprach der Biologe.
Er wird bald platzen.
Ja, er wird bald platzen.
Das Lachen kehrte zurück.

Die Uhus am anderen Ende der Stube versuchten sich in ihrer Neugier an einer vollständigen Drehung ihrer Köpfe, brachen sich das Genick und merkten es nicht.

Es war spät geworden, man bezahlte, verabschiedete sich herzlich und ging.

Sonntag, 9. Dezember 2012

Zizek in Teheran (20)

Habe ich gesagt, die Schuhe des Runden sind rund? Ich nehme die Behauptung zurück. Sie sind spitz. Ihre Spitze ist aus hartem Metall, lang und glänzend und kalt ist Dir, LeserIn? Oder geil? Im Bauch ist keine Übelkeit, aber im Hirn. Hirn-Übelkeit. Wie sie in Graz hirnschwanger sagen.

Die Metallspitze bewegt sich auf den japanischen Faltenrock zu. Die Farbe der Mehrzahl der Schuhe in Teheran ist braun. Genauer gesagt, habe ich - daß sich der Schuh auf den Faltenrock zubewegt hat - nicht gesehen, sondern der Schuh war plötzlich unter dem Rock.

Schirin stürzt auf die Ältliche. Oder: Es scheint, als fiele sie der Ältlichen um den Hals. Ich höre etwas. Zu sagen: Es ist ein Schrei gewesen wäre übertrieben. Die Ältliche umarmt sie, fest, und steht auf. Sie ist dünner als Schirin, aber stark. Scheint Schirin aufheben und tragen zu wollen, die auf einmal, mit dem Rücken an die Couch gelehnt, auf dem Teppich liegt, oder sitzt.

Die Ältliche und der Runde machen sich an die Arbeit, rasend schnell, und präzise, mit einem Plastikseil, den sie aus einem Plastiksack nehmen, der neben der Couch steht, oder: er taucht auf einmal dort auf, werden Schirins Hände an ihren Körper gefesselt, mit der einen Hand hält der Runde sie am Nacken, mit der anderen drückt er - der Runde ist rund, und klein, und hat Riesenpranken - ihre Füsse zusammen. Die Ältliche hält Schirins Beine an den Hüft- und Kniegelenken gestreckt.

Du glaubst, daß es so weitergeht, LeserIn? Nicht im Ernst. Oder? Du wirst Dich doch nicht im Pornographischen eingerichtet haben? Was willst Du? Daß sie Schirin zu einem U zusammenbinden? Wie die Barbie? Daß die Ältliche ein Geschirr holt, weiß Gott woher, das aus einem Halsband, zwei Fußfesseln, und einem Stab besteht (als Verbindungsstück zwischen den Fußfesseln), alles aus einem massiven Metall? Daß an dem Halsband und den beiden Fußfesseln je eine Leiste befestigt ist? Insgesamt drei also? Daß sie Schirin das Geschirr anlegen, rasend schnell, und präzise, am besten mit ständigen Seitenblicken in Richtung Barbie, als Bau-Anleitung? Daß sie zwischen der Halsband- und den beiden Fußfessel-Leisten vielleicht noch zwei Draht–Reihen aufspannen? Daß dann Schirin wie eine, in der Mitte auseinandergerissene, Harfe ausieht? Mit ihrem Körper als Resonanzkörper? Wie die Barbie?

Sonst alles in Ordnung bei Dir? Das ist Literatur, werte LeserIn!

Oder willst Du, daß der Runde, ein Hafes-Liebhaber, auf der zu einer Harfe zusammengebundenen Schirin spielt? Und dabei Hafes rezitiert (wußtest Du, daß Hafes zu seiner Zeit Musiker genannt wurde)? Während er Schirin fickt? Willst Du das? Oder daß die Ältliche Schirin fickt, während sie sie spielt? Oder daß die Ältliche mit ihrer Opernstimme, die garantiert zu ihren Stilmöbeln paßt, Hafes rezitiert:

„Holla Saki!
Reiche mir den Krug!
Anfangs schien die Liebe leicht,
Die mich mit Beschwernis schlug

Wie könnt' ich - in des Geliebten Rastort
Sicher leben, denn sogleich
Hebt die Glocke an, zu rufen:
Aufgepackt zum Weiterzug!

Färbe bunt mit Wein den Teppich,
Wenn der Alte Wirt es sagt,
Denn der Wand‘rer ist nicht unkund
Der Stationen Recht und Fug

Finstre Nacht und Wogengrauen
Und entsetzlich Wirbeldrehn,
Wie soll unsern Zustand kennen,
Wer am Strand geht, leicht und klug

All mein Thun hat eigensinnig
Üblen Namen mir verschaft.
Wie verbirgt sich ein Geheimnis,
 Das man unter Leute trug!“,

während der Runde sie fickt?

Bist Du noch bei Trost, LeserIn?

wird fortgesetzt

Mittwoch, 5. Dezember 2012

Zizek in Teheran (19)



Was muß ich?, fragt Schirin, ich glaube erst, daß sie lächelt, was die Ältliche antwortet, kann ich nicht hören.

Oder: Anstatt zu antworten ergreift die Ältliche Schirins Gesicht, mit zwei Fingern, holt sie es, hinunter, zu sich. Und schaut. Und läßt es los. Bleib!, sagt sie, als Schirin sich wieder aufrichten will. Ihre Stimme paßt weder zu ihren Stilmöbeln, noch zu der Kleidung. Wie ein ältliches Mädchen die Haare seiner Puppe, arrangiert die Ältliche die Haare Schirins. Und drückt. Diverse Stellen in Schirins Gesicht. Wie bei der Akkupressur. Aber sanft. Aber unsanft. Drückt Schirins Mund. Zusammen. Dann auseinander. Zusammen. Dann auseinander.

Soll das geil sein?

Holla Saki!

Auf dem Couchtisch ist eine Puppe. Ich versuche sie näher ins Auge zu fassen. Was anstrengend ist. Eine Barbie. Ich bin Psychoanalytiker, als solcher kurzsichtig. Schon erscheint die Barbie in Großaufnahme. Das Gedächtnis funktioniert wie ein Film.

Reiche mir den Krug!

Sie haben die Barbie zu einem U zusammengebunden, an ihrem Hals ist ein Halsband. Das Wort Fessel ist im Deutschen als Teil des Beines zwischen Wade und Fußgelenk definiert, beim Tier als Teil des Fußes zwischen Mittelfuß und Huf, an den beiden Fesseln der Barbie sind Fußfesseln. Keine elektronischen, aber aus massivem Metall. Wie das Halsband. Am Halsband, wie an den Fußfesseln, der Barbie, haben sie je einen Leisten angebracht. Ebenfalls aus Metall. Zwischen den beiden Fußfessel-Leisten auf der einen - und der einen Halsband-Leiste auf der anderen Seite sind zwei Draht–Reihen aufgespannt. Das ganze

Barbie-Halsband-Fußfessel-Draht-Reihen-Arrangement

sieht aus wie eine in der Mitte auseinandergerissene Harfe. Mit der Barbie als Resonanzkörper.

Anfangs schien die Liebe leicht

Die gepflegte Radio-Stimme kann nicht aufhören, den Hafes zu zitieren.

Die mich mit Beschwernis schlug

Was macht der Runde inzwischen? Er schaut. Die Kamera zeigt jetzt - auch wenn es eine Kamera natürlich nicht gibt, Du hast es schon kapiert, Leser?, Nein? - das ganze ist ja ein Theater, oder wie ein … Dennoch: Die Kamera zeigt auf einmal die Schuhe des Runden. Die spitz sind. Das heißt, daß sie vorne eine Metallspitze haben. Habe ich gesagt, die Schuhe des Runden seien rund? Ich nehme die Behauptung zurück. Sie sind spitz. Ihre Spitze ist aus hartem Metall, lang und glänzend und kalt ist Dir, Leser? Oder doch geil? Im Bauch ist keine Übelkeit zu bemerken, im Hirn aber. Hirn-Übelkeit, wie die Grazer hirnschwanger sagen.

wird fortgesetzt

Freitag, 23. November 2012

Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten - und die eigene auch nicht (4)


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Eine sexuelle Revolution im Islam – "Ja dürfen’s denn des?"


Die Gegenüberstellung des Eurozentrismus Freuds als Person auf der einen, und der Universalität seines Textes auf der anderen Seite, greift aber zu kurz.

Denn: So wie Totem und Tabu zwar über die Person seines Autors hinausweist, nichtsdestotrotz aber in engem Zusammenhang mit eben jenem Sigmund Freud als Person steht - genauso weisen klassische europäische Theorien, insofern sie Universalität beanspruchen, über die kulturelle und historische Konstellation, in der sie entstanden sind, zwar hinaus. Zugleich kann man sie aber außerhalb ihres partikularen Entstehungskontextes nicht verstehen. Losgelöst von Erfahrungen wie jener der Reformation oder der Aufklärung, oder, allgemeiner, dem antiken und dem jüdisch-christlichen Erbe, sind diese Theorien nicht lesbar.

Ohne Eurozentrismus - keine Universalität.

Das ist die im Universalitätsanpruch der Moderne verborgene - schwer zu verdauendende - Dialektik: Daß die moderne Universalität in spezifischen historischen Erfahrungen bestimmter europäischer Gesellschaften wurzelt, über die sie aber zugleich hinausweist - und auf die sie nicht reduziert werden darf.

Verschließen wir vor dieser Dialektik die Augen, werden wir – wenn wir Europäer sind - Kategorien wie Aufklärung , Demokratie oder Menschenrechte als „unseren kulturellen Besitz“ betrachten, der uns von Angehörigen nicht-europäischer Gesellschaften kategorisch unterscheidet.

Mit „Nicht-Europäern“ sind in diesen Zusammenhängen in der Regel Menschen aus Ländern mit islamischer Bevölkerungsmehrheit gemeint. Für viele dieser Menschen wiederum – wir nennen sie islamische Fundamentalisten - geht die Konfronation mit jener Dialektik der Moderne mit massiven Kränkungen einher, die in Aggression umgewandelt - und in regelmäßigen Abständen expolsiv abreagiert werden.

Zugrunde liegt jenen Kränkungen der Fundamentalisten ein fundamentales Mißverständnis: „‚Die im Westen‘ haben etwas, was wir nicht haben.“

Ein Mißverständnis mit einem wahren Kern.

Mißverständnis, weil islamische Fundamentalisten, genauso wie jene oben beschriebenen Europäer, die Moderne, indem sie deren universellen Apekt außer acht lassen, als kulturellen Besitz „des Westens“ mißverstehen.

Wahrer Kern, weil die Moderne, wenn wir sie aus ihrem historischen Entstehungkontext herauslösen, nicht mehr zu verstehen – vor allem aber nicht nachvollziehbar wäre. Nachvollziehbar müßte sie aber dort sein, wo es um die Verwirklichung ihrer Universalität geht.

In ihrem Buch Der Islam braucht eine sexuelle Revolution plädiert die deutsch-türkische Frauenrechtlerin Seyran Ates für eine sexuelle Revolution „im Islam“, nach dem Vorbild der sexuellen Revolution der 60er Jahre in Amerika und Europa. Das Buch artikuliert das Bedürfnis vor allem junger Menschen in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit nach all dem, was wir mit den Begriffen „sexuelle Revolution“ und „sexuelle Emanzipation“ verbinden. Es ist ein mutiges Plädoyer, und man könnte es als Beleg für die Gültigkeit des Universalitätsanspruchs der Moderne lesen.
Wenn denn Ates‘ Versuch der Übertragung der sexuellen Revolution auf sogenannte islamische Gesellschaften - da sie Konzept und Kontext dieser Erfahrung nicht konsequent genug nachvollzieht - nicht bereits auf der Ebene der Theorie gründlich, und exemplarisch, schief gegangen wäre.

Der Islam braucht eine sexuelle Revolution beruft sich auf Theorien des Freud-Schülers und Psychoanalyse-Dissidenten Wilhelm Reich. Speziell auf dessen Werk Die sexuelle Revolution. Für Reich und Freud lagen die Ursachen für das von ihnen konstatierte sexuelle Elend in gesellschaftlich bedingten psychischen Faktoren. Der Religion schrieben sie in diesem Zusammenhang die Rolle eines gewichtigen krankmachenden Faktors zu. Weit davon entfernt diesen krankmachenden Faktor reformieren oder „revolutionieren“ zu wollen, lehnten sie Religion in jeder Form ab. Der Gedanke, eine sexuelle Revolution „im Christentum“ veranstalten zu wollen, wäre ihnen mehr als absurd vorgekommen.

Wenn nun Ates – im Gegensatz zu  Reich und Freud – nicht für eine sexuelle Revolution in Gesellschaften mit islamischer Mehrheit  plädiert, sondern ausdrücklich für eine Revolution „im Islam“, verneint sie unausgesprochen die Möglichkeit, daß in jenen Gesellschaften außerhalb der Sphäre des Islams so etwas wie „Gesellschaft“ überhaupt existiert. Zwischen der Gesellschaft und dem Islam besteht für Ates volle Identität. Außerhalb des Islams scheint für sie "dort" gar nichts zu existieren - nicht einmal auf begrifflicher Ebene.

Der Revolution geht ein Akt der Unterwerfung voraus.

Als Kaiser Ferdinand I. im März 1848, vom Balkon der Hofburg aus, den revolutionären Aufruhr der Massen beobachetete, soll er Metternich gefragt haben: „Ja dürfen’s denn des?“ Bei der sexuellen Revolution von Seyran Ates erübrigt sich diese Frage. Bevor sie noch daran denkt, loszubrechen, holt sich diese Art Revolution die Genehmigung dazu bei den - religiösen – Autoritäten.

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Sonntag, 11. November 2012

Zizek in Teheran (18)

Um es mir zu zeigen, will Schirin ein Gedicht vergessen. Will mir ein Gedicht vergessen, wollte ich sagen. Die erste Strophe war schon der erste Abschnitt. Die angenehme, männliche Stimme fordert Schirin jetzt auf, an das intensivste Erlebnis zu denken, das sie je hatte.

Alles verändert sich. Ich scheine zusammen mit dem Feauteuil zu versinken. Tiefer, bis aus einer Vertiefung gerade noch mein Kopf herausschaut. Oder ich sitze im Zuschauerraum und schaue auf die – höhergelegene - Bühne.

Im Halbdunkel des viktorianischen Zimmers eine Insel des Lichts. Wenn auch gedämpft. Auf der Insel steht Schirin. Neben einer Couch. Obwohl sie noch immer in dem Feauteuil links von mir sitzt. Zwischen uns der Beistelltisch aus den 70ern.

Die stehende Schirin steht mitten im viktorianischen Wohnzimmer-Meer auf einer Teheraner-Wohnzimmer-Insel, bestehend aus Stilmöbeln. Das sagt uns über seine Bewohner schon alles. Schirin scheint allerdings nicht zu ihnen zu gehören.

Was wir sehen, werter Leser, ist Starke Materie. Die Erinnerung Schirins an das intensivste Erlebnis.

Auf der Couch sitzen: Eine Frau und ein Mann. Mit einigem Abstand voneinander, aber es ist klar: Sie gehören zusammen. Angehörige der Teheraner Mittelschicht. Sagen wir der oberen. Die Frau ist nicht alt, aber ältlich. Die Haare aufdringlich schwarz. Die Schminke paßt, und ihre Kleidung, perfekt zu den Stilmöbeln. Mir scheint, daß ich sie rieche.

Der Mann ist gekleidet wie der Gefängnisarzt. Geschmacklos und alles ist rund: Nase, Wange, hellbraune Schuhe, Bauch, und glänzt. Die Nasenspitze glänzt am rundesten aus der ohnehin schon glänzenden Teheraner Wohnzimmerinsel. An wen erinnert uns der Mann, werter Leser? An Kalkali natürlich. Sadeg. Henker der Revolution. Der Teheraner Eichmann. Kalkali war aber runder als Eichmann. Und lustiger. Viel, viel.

Zwischen der Ältlichen und dem Couchtisch steht Schirin, in einer Schuluniform. Weißes Hemd, dunkelblauer Faltrock, blauer Schal usw. Du weißt schon, Leser. Genau wie in einem japanischen Schulmädchen-Porno. Nein? Du schaust keine japanischen Schulmädchen-Pornos?

Macht auch nichts.

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Mittwoch, 7. November 2012

Zizek in Teheran (17)

„Das Problem, das bei der Verknüpfung mit der Starken Materie auftreten kann, ist daß das BCI es nicht schafft, den Inhalt des Buches auszulöschen - und sich dieses, mit der Starken Materie verknüpft, dem Bewußtsein erst recht aufdrängt.“

„Das halte ich, mit Verlaub, für das geringste Problem“, sage ich, „das Problem ist die Starke Materie selbst. Auch wenn es das dritt- oder viertschlimmste Erlebnis sein mag, an das sich das Mädchen erinnert. Wenn Ihr die Starke Materie verstärkt, macht Ihr das Mädchen fertig. Ich bin Psychonalytiker.“


„Ich weiß“, sagt Schirin.

Weil sie aufsteht, und sich in die Tiefe des Hauses des Vergesens begibt, d.h. in die Tiefe dieses Raumes, aus dem viktorianischen England. Und verschwindet im Dunkeln.

Nochmal: Weil sie aufsteht und sich in die Tiefe des Hauses des Vergesens begibt, habe ich keine Gelegenheit, sie zu fragen, ob sich

Ich weiß

auf die Tatsache bezieht, daß ich Analytiker bin. Oder auf den seelischen Schaden, den die verstärkte Starke Materie den Hirnen der islamischen Mädchen zufügen kann.

Sie kommt zurück und hält eine zweite, ebenfalls hellbraune Trockenhaube in der Hand. Den sie mir auf den Kopf setzt. Ich sitze inzwischen auf einem der beiden großen und blauen Feauteuils, oder Ohrensesseln, links und rechts des Beistelltisches. Aus den 70er Jahren.

„Ich zeige es Ihnen.“

Schirin geht zu dem altehrwürdigen, unendlich hohen Regal, Du erinnerst Dich, Leser: Mit den unendlich vielen, altehrwürdigen Büchern, sie scheint dort seine Tastatur zu bedienen. Genau sehe ich es - versunken in dem Feauteuil, aus dem viktorianischen England, und unwillig, mich auch nur ansatzweise zu erheben - nicht.

Schirin setzt sich in den anderen Feauteuil, links von mir, zwischen uns der Beistelltisch, aus den 70ern, auf dem die erste Trockenhaube steht, Kopftuch trägt sie längst nicht, und setzt sich die Trockenhaube auf. Wie eine Königin sich krönt. Es kann los gehen.

„Ich zeige es Ihnen“, wiederholt Schirin, „anhand eines Gedichtes unseres Hafes“. Oder sagt sie eines Gedichtes Hafisens, wie Rückert und Goethe gesagt haben würden? Aber sie spricht ja die Sprache Teherans.

Hafes, werter Leser ist der berühmetste und beliebteste und beste Teheraner Dichter. Siehe Goethe, West-Östlicher Divan, Rückert, Hammer-Purgstall etc. Interessiert Dich nicht wirklich. Macht auch nichts.

Alla ya ayo ha Saghi
Adar ka’ssan va Navelha
Ke eschgh assan nemud aval
Vali oftad moschkelha

Holla Saki, reiche mir den Krug
Anfangs schien die Liebe leicht,
Die mich mit Beschwernis schlug

Das war die Stimme des Computers des BCI des Hauses des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher. Eine angenehme Stimme, leicht sonor, wie die Radiostimmen, männlich, unter dem Kaiser. Rasiert. Mit dunklem Sakko. Und Krawatte.

Offenbar sind Schirins und meine Trockenhauben, d.h. Elektrodenhauben, parallelgeschaltet. Schirin hat mich an ihr Hirn angeschlossen. So daß ich die Radiostimme, die sonst nur sie hören würde, auch höre. Was hättest Du, werter Leser, wenn ich gesagt hätte: Schirin hat mich an ihr islamisches Mädchenhirn angeschlossen, gedacht?

Beide Elektrodenhauben sind von Elektroden übersät. Aber weder an meiner noch an Schirins Haube hängen Kabeln. Alles sehr magisch hier, im Internat Islamischer Mädchen. Das BCI des Hauses des Vergessens scheint mit Funkstrom zu arbeiten. Monitore gibt es nicht.

Schirin will ein Gedicht vergessen. Um es mir zu zeigen. Will mir ein Gedicht vergessen, hätte ich gesagt. Die erste Strophe war schon der erste Abschnitt. Die angenehme, männliche Stimme fordert Schirin jetzt auf, an das intensivste Erlebnis zu denken, das sie je hatte.

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