Freitag, 10. Juni 2011

Wunderland 27



... und bei Unkenntnis von Adorno den Eindruck haben konnte, es würde ein Theodor genanntes, pornographisches Werk angekündigt ...


Wie diese Aktivitäten in eine Bekehrung münden oder zu einer Umerziehung führen sollten, war mir nicht klar. Einer der Lagerbewohner, ein junger Dozent der Sprachwissenschaft, ein Schlaksiger, wie man in den Bergen hier gesagt haben würde, hatte eine Theorie, Die Theorie des Parvis genannt, so hieß der Dozent, auf den ich eifersüchtig war, denn das Mädchen, sie hieß übrigens Nika, nannte ihn ihren Freund. Das Mädchen und der Dozent verbrachten viel Zeit miteinander und es war, soweit ich mich erinnere, das Mädchen, das mir Die Theorie des Parvis erklärte.

Die Theorie des Parvis besagte, daß nicht die Lehrveranstaltungen in eine Bekehrung münden oder zu einer Umerziehung führen konnten, sie wurden ja von den Inhaftierten selbst geplant und gestaltet - sondern die Tatsache, daß man als Inhaftierter im Lager studieren und musizieren und leben und lieben konnte, wie man wollte, beeindruckte die Inhaftierten - so das Mädchen, als sie mir die Theorie des Parvis erklärte -, und es käme zu einem Umdenkprozeß. So schlecht, würden die Inhaftierten sich denken, kann der religiöse Faschismus nicht sein, wenn er seine Feinde so behandelt, und: Vielleicht ist er gar kein Faschismus, und nach der Entlassung könnte man sich ja dafür engagieren, ganz Teheran in ein Umerziehungslager der religiösen Faschisten zu verwandeln.

Manche im Lager verwarfen die Theorie des Dozenten, resp. hielten sie für zu flach. Diese Kritiker teilten sich in zwei Lager. Das eine stellte den Umerziehungscharakter des Lagers ganz in Frage, aber ohne angeben zu wollen, oder zu können, welchem Zweck das Lager sonst dienen sollte. Womöglich, so die Vertreter jenes ersten Lagers der Kritiker des Dozenten, wüßten nicht einmal die Faschisten, warum sie ihre Gegner in ein Lager verschleppten, um ihnen dann dort alle Freiheiten zu geben, und ein sorgenfreies und erfülltes Leben zu ermöglichen.

Für das Wohlbefinden im Lager war tatsächlich gesorgt. Es gab mehrere Wohlfahrtskomitees, oder -kommissionen, ich weiß es nicht mehr, eine Art Lagerbehörde, die sich um die Bedürfnisse der Bewohner kümmerte, Ernährung, Wohnung, Bekleidung usw., alles was in Teheran zu beschaffen war – aber gelegentlich kaufte man auch im Ausland -, Kaffee, Zigaretten, Kaugummis, Computer, Kondome, Bücher und Zeitschriften, Einrichtungsgegenstände, Hifi- und TV-Geräte, auch Unterlagen für Seminare und Kurse, bis hin zu den ausgefallenen Instrumenten – die Kommissionen besorgten fast alles.

Eigentlich taten die Kommissionen nichts anderes, als Listen von Bedürfnissen zu erstellen, und diese dann an der sogenannten Schleuse abzugeben. Die Güter wurden von den Faschisten besorgt und, wiederum über die Schleuse, ins Lager geliefert. Mit der Zeit, so das Mädchen, hätte sich ein Schema ergeben. Die Kommisionen deponierten die Listen am Nachmittag in den Schleusen, die Faschisten lieferten in der Nacht, so daß es zwischen den Faschisten und den Lagerbewohnern zu keiner Begegnung kommen würde.

Warum es für die Erstellung der Listen und ihrer Abgabe an der sogenannten Schleuse dieses ganzen Verwaltungsapparates der Komitees oder Kommissionen bedurfte, konnte mir niemand erklären. Es handelte sich möglicherweise um das, was man in den Deutschsprachigen Bergen Beschäftigungstherapie nennt.

Die Schleuse war eine Garagenhalle an einer langen Ziegelsteinmauer, im Süden des Lagers, wobei ich Süden nur aus einem vagen Gefühl heraus sage, meine Orientierung ist schlecht. Eines der beiden Tore der Garage öffnete sich zum Lager hin, das andere, gegenüberliegende, nach außen. Die Mauer umschloß im Übrigen nicht das ganze Lagergelände, sondern eben nur jenen 'Süden'. Ich erfuhr - vom Mädchen glaube ich -, daß sich das Lager innerhalb eines Sperrgebietes im Norden von Nord-Teheran befand. Lagerfremde Personen durften das Sperrgebiet nicht betreten, hingegen durften die Lagerbewohner die Sperren zu jeder Tages- und Nachtzeit passieren - wenn sie denn wollten.

Aber zurück zu den Theorien des Parvis, resp. zu der ersten Gruppe von dessen Kritikern, die behaupteten, womöglich wüßten nicht einmal die Faschisten, warum sie das Lager errichtet hatten - und es sei daher müßig, sich als Inhaftierter den Kopf für die Inhaftierer zu zerbrechen. Vielmehr sollte man die Freiheit im Lager genießen, so lange es ginge, statt über Dinge zu spekulieren, über die es keine Gewissheit geben könnte usf.

Die zweite Gruppe der Kritiker des Dozenten war zwar auch der Auffassung, daß der Zweck des Lagers die Umerziehung sei, resp. die Bekehrung, meinte aber, keiner der Lagerinsassen könne so dumm sein - und Parvis selbst sei das beste Beispiel dafür -, jenes vermeintlliche Kalkül der Faschisten nicht zu durchschauen. Auch die Faschisten selbst, so jene Gruppe der Kritiker, könnten doch nicht so dumm sein, die Inhaftierten im Lager für so dumm zu halten, einem solchen Kalkül auf den Leim zu gehen, wie man in den Deutschsprachigen Bergen gesagt haben würde. Der Umerziehungseffekt habe vielmehr mit einer Eigenschaft des Menschen zu tun. Die Wortführerin jener Kritikergruppe, eine sympathische und ältere Professorin der Philosophie, und Teheraner Feministin, hat mir jene Eigenschaft einmal zu erklären versucht, ich habe sie aber vergessen, oder seinerzeit schon nicht verstanden. So weit ich noch weiß, hatten die Argumente der Professorin mit der Freiheit oder der Möglichkeit der Freiheit zu tun, wie sie sagte. Jetzt fällt mir das Argument - d.h. eines ihrer Argumente fällt mir jetzt wieder ein: Die im Lager herrschende Kombination aus Freiheit und Sorglosigkeit stellte, so die Professorin, nicht nur die Verhältnisse in Teheran auf den Kopf, sie sei auch auf der ganzen Welt einzigartig. Denn die maximale Freiheit im Lager sei nur möglich angesichts der maximalen Unfreiheit im Rest-Teheran. Aber die maximale Freiheit, so die Professorin und Feministin, würde über kurz oder lang in eine Sehnsucht nach der maximalen Unfreiheit münden – also eine Sehnsucht nach der Unterwerfung unter dem Gott der Religion Teherans.

Auch wenn ich die Argumente der Professorin und Feminsitin nicht wirklich verstand – ihre Behauptung, die im Lager herrschende Freiheit und Sorglosigkeit sei weltweit einzigartig gewesen, war richtig, sodaß ich mich fragte, was einen Bewohner des Lagers hätte veranlassen können, dieses je verlassen zu wollen. Man war nirgendwo in Teheran so frei - resp. auf der ganzen Welt -, und solange man seinen MitbewohnerInnen keinen Schaden zufügte, konnte man machen, was immer man wollte, das Nichtstun miteingeschlossen.“
„Dolce far niente“, sagte der Grobe. Sein Gesicht schien ein Genießen auszudrücken, aber auch etwas anderes, womöglich Verachtung.
„Falls ein Bewohner des Lagers etwas zu tun beschloß, oder zu studieren, oder selbst zu unterrichten, brauchte er bloß der zuständigen Kommission seinen Wunsch mitzuteilen, um jede mögliche Unterstützung zu erhalten. Die historischen Instrumente zum Beispiel hatte sich ein Professor gewüncht, ein weltweit anerkannter Theoretiker der Neuen Musik, den ein trauriges Mißverständnis - oder soll ich sagen ein glückliches? - ins Lager gebracht hatte. Der Professor war Spezialist für Neue Musik, aber liebte es, die neue Musik auf ausgefallenen und alten Instrumenten zu spielen bzw. spielen zu lassen, daher das Clavycytherium, die Trompette marine und das Colascione. Vor seiner Inhaftierung im Lager hatte er sich das Ziel gesetzt, die Teheraner Massen – und nicht nur die Bildungsbürger, wie er sagte – für die Neue Musik zu begeistern, weshalb er sich nicht mit den Lehrveranstaltungen auf seiner Universität begnügt hatte, und mit seinen AssistentInnen und StudentInnen auf die Straße gegangen war.

Die Situation der Künste nach dem Sieg der Revolution in Teheran kann man mit der Situation der Künste nach dem Sieg der Revolution in Russland vergleichen, da erlebten die Künste einen Aufschwung, der in Teheran aber nur kurz dauerte. Der Professor veranstaltete vor - vor allem aber nach - der Revolution happenings“, der Junge wandte sich an mich, „ein happening ist eine oft künstlerische Aktion, bei der versucht wird, das Publikum einzubeziehen, zum Beispiel durch Provokationen.“ Offenbar hielt mich der Junge nicht nur in Sachen Teheran für einen Idioten, sondern generell. Oder er war erregt und verwirrt - obwohl er einigermaßen geordnet erzählte -, und sagte, was immer ihm einfiel.
„Der Professor, ein begnadeter und auch bei der Unterschicht äußerst beliebter Redner, kombinierte bei den happenings Ausführungen über die Theorie der Neuen Musik mit Elementen des Straßentheaters, Video- und Objektinstallationen sowie der Methode der Publikumsbeschimpfung. Die happenings wurden durch Plakate angekündigt, gestaltet von einer Studentin der Hochschule für Bildende Künste. Bei einem der happenings, das sein letztes sein sollte, behandelte der Professor eine Schrift von Theodor Adorno, Philosophie der neuen Musik. Die Studentin hatte die Gewohnheit, die Buchstaben auf den Plakaten - wie es ja jetzt auch in den Deutschsprachigen Bergen üblich geworden ist - zu verschieben und/oder zu verdrehen. So verfuhr sie auch beim Werbeplakat für das happening über Adorno, das in ganz Teheran, wie mir das Mädchen erzählte, affichiert worden war.
Jahre später habe ich erfahren, daß die Plakatkünstlerin niemand anderer war als das Mädchen selbst. Warum sie behauptet hatte, sie wäre wegen Marx in das Lager gebracht worden, weiß ich nicht. Vermutlich schämte sie sich für das besagte Plakat. Die erste Zeile des Plakates lautete: Theodor Adorno. Die zweite: Philosophie der neuen Musik. Zwischen dem A des Adorno und dessen d hatte das Mädchen einen ungewöhnlich großen Abstand gelassen, und das d um etwa 90 Grad verdreht, so daß man das d mit einiger Phantasie als p -

THEODOR A PORNO

- lesen, und bei Unkenntnis von Adorno den Eindruck haben konnte, es würde ein Theodor genanntes, pornographisches Werk angekündigt, was aber weder dem Mädchen aufgefallen war noch dem Professor.“