Sonntag, 16. Mai 2010

Voltaires Candide oder Always Look at the Bright Side of Life (1)


Hand aufs Herz, wer liest schon heutzutage Voltaire? Ich zum Beispiel - obwohl ich zugeben muß: Hätte ich mich nicht, an einem Samstagvormittag, im Mai, anläßlich des Besuches meines Freundes und ehemaligen Schulkameraden, Heinrich, zusammen mit diesem auf der größten Einkaufsstraße der Stadt aufgehalten, und hätten wir nicht auf einmal über den Vornamen von Voltaire zu rätseln begonnen - wieso ausgerechnet über den Vornamen von Voltaire, das weiß ich nicht mehr - und hätten wir uns nicht zufällig in der Nähe der größten aller Buchhandlungen der Stadt aufgehalten, und wären wir nicht hinein, um die erste Buchhandlungs-Angestellte, der wir begegneten, nach dem Vornamen von Voltaire zu fragen, und hätte sie uns, nicht ohne ihrer Verwunderung über unsere Frage Ausdruck zu geben - mit großen Augen und einem Anflug von Empörung -, in die zweite Etage geschickt, wo wir das von Voltaire verfaßte Büchlein Candide oder Der Optimismus vorfanden – ich hätte ihn auch nicht gelesen.

Ich schlug das auffallend schmale Taschenbuch auf, Heinrich war im ersten Stock bei der Abteilung für Reisebücher hängengeblieben, und las, wie ich es in Buchhandlungen zu tun gewohnt bin, den ersten Absatz - und mußte lachen. Die umstehenden Kunden der größten aller Buchhandlungen sahen mich argwöhnisch an, sie alle hatten Bücher von oder über Philosophen in der Hand, überwiegend von oder über deutsche Philosophen, das wußte ich, weil ich in dieser Abteilung Stammkunde bin, in der es überwiegend Bücher von oder über deutsche Philosophen gibt, die Umstehenden sahen mich also argwöhnisch an, und ihre Gesichter hatten denselben Ausdruck - verwundert, resp. empört - wie das Gesicht der Buchhändlerin im Parterre.

Ich lachte und dachte: Das soll ein Philosoph sein?
Der Leser deutscher Philosophen ist gewohnt, diese zunächst einmal nicht zu verstehen. Und in weiterer Folge auch nicht. Mit der Zeit, falls er die Lektüre nicht aufgibt, gewöhnt er sich an das Nicht-Verstehen-Können, genauer an das spezifische Nicht-Verstehen-Können dieses einen, in Frage stehenden deutschen Philosophen - jeder deutsche Philosoph löst eine andere, jeweils spezifische Art des Nicht-Verstehen-Könnens aus, Kant beispielsweise ist auf eine andere Art unverständlich als Hegel, der wieder ganz anders unverständlich ist als Nietzsche, resp. Heidegger usw. Nach und nach wird einem das spezifische Nicht-Verstehen-Können dieses einen deutschen Philosophen immer vertrauter, bis man diese Vertrautheit am Ende für ein Verstehen hält.

Natürlich müßte man die Frage stellen, ob nicht jedes Verstehen, auch das Verstehen eines anderen Menschen, im Grunde nichts anderes sei als ein Immer-vertrauter-werden mit dem spezifischen Nicht-Verstehen-Können dieses einen Anderen – und weiter: Ob es uns, wenn wir uns selbst zu verstehen versuchen, nicht ebenso geht – womit wir wieder bei den deutschen Philosophen angelangt wären: Nachdem er die französische Übersetzung seiner Phänomenologie gelesen hatte, soll Hegel gesagt haben, jetzt habe er endlich verstanden, was er eigentlich (sagen) wollte.

Zurück zu Voltaire. Ich las also die ersten Sätze des Candide und lachte, nicht etwa – oder nicht nur - weil ich über deren Verständlichkeit erstaunt und erfreut war, die zur Unverständlichkeit der Sätze unserer deutschen Philosophen im krassesten Gegengsatz steht, ich lachte vor allem, weil diese Sätze einfach witzig waren, und daß auch das, das Witzige dieser Sätze Voltaires, ihn zu unseren deutschen Philosophen - und deren Sätze - in den krassesten Gegensatz bringt, brauche ich nicht zu erklären.

Ich setzte mich in das schöne Café der größten aller Buchhandlungen der Stadt, mit Blick auf die besagte und größte Einkaufsstraße, und las weiter, und weiter, und … nach nicht einmal einer Stunde - mittlerweile hatte sich Heinrich, mein Freund, an meinen Tisch gesetzt und blätterte in einem Motorrad-Reisebuch - nach nicht einmal einer Stunde war ich fertig.

Ich hatte, ehrlich gestanden, noch nie, obwohl ich Stammkunde der philosophischen Abteilung im zweiten Stock der größten Buchhandlung bin, ich hatte noch nie das Werk irgendeines Philosophen fertiggelesen, so daß ich begeistert und stolz war - und voller Mitteilungsdrang begann ich meinem Freund und ehemaligen Schulkameraden Heinrich von Candide zu erzählen.

Candide, erklärte ich Heinrich, ist eine conte philosophique - ich hatte ja auch das Nachwort gelesen - also ein philosophischer Roman, und zugleich ein satirischer, genauer eine Romansatire, in der Voltaire die Gattung der Abenteuer- und Liebesromane auf die Schaufel nimmt, indem er in einem unwahrscheinlichen Tempo die unwahrscheinlichsten Dinge geschehen läßt.

Candide – der Held des Romans - wächst auf dem Schloß des Freiherrn Thundert ten Tronk in Westfalen auf und wird vom Philosophen Pangloß (dem Allredner) in dem Glauben erzogen, die Welt sei gut, nein, die beste aller möglichen Welten - eine deutliche Anspielung auf G.W. Leibniz und seine in seiner Theodizee entwickelte Metaphysik. Die Pangloß’sche Version des Leibniz’schen Optimismus ist freilich eine fortwährende, stereotype Wiederholung einiger weniger Floskeln, was dann zum Beispiel so klingt - ich las Heinrich, der mitttlerweile sein Motorrad-Reisebuch weggelegt und eine zweite Melange bestellt hatte, vor:

Es ist erwiesen, daß die Dinge nicht anders sein können, als sie sind, denn da alles zu einem bestimmten Zweck erschaffen worden ist, muß es notwendigerweise zum besten dienen. Bekanntlich sind die Nasen zum Brillentragen da – folglich haben wir auch Brillen; die Füße sind offensichtlich zum Tragen von Schuhen eingerichtet - also haben wir Schuhwerk; die Steine sind dazu da, um behauen und zum Bau von Schlössern verwendet zu werden, und infolgedessen hat unser gnädiger Herr ein wunderschönes Schloß. Der vornehmste Baron der ganzen Provinz muß eben auch das schönste Schloß haben. Und da die Schweine dazu da sind gegessen zu werden, essen wir da ganze Jahr hindurch Schweinefleisch. Also ist es eine Dummheit zu behaupten, alles auf dieser Welt sei gut eingerichtet; man muß vielmehr sagen: alles ist aufs beste bestellt.

Als sich Candide in die Tochter des Schloßherrn, die schöne Cunégonde (Kunigunde), verliebt und mit ihr auch noch in flagranti erwischt wird, wird er vom Frei- und Schloßherrn mit einem Tritt in den Hintern verjagt – und seine Abenteuer beginnen. Zunächst wird er von Offizieren der Armee des Königs der Bulgaren zum Dienst rekrutiert – ich las wieder vor:

Einer der Blauen [i.e. der bulgarischen Rekrutierungsoffiziere - Anm. von mir] drückte Candide ein paar Taler in die Hand. Candide nahm sie und wollte einen Schuldschein ausstellen, aber das wurde abgelehnt. Sie setzten sich zu Tisch. „Haben Sie nicht eine große Liebe …?“ „O ja“, antwortete Candide, „ich liebe Fräulein Kunigunde vom ganzen Herzen“. – „Aber nein“, sagte einer der Herren, „wir meinen, ob Sie nicht eine große Vorliebe für den König der Bulgaren haben?“ – „Wie käme ich denn dazu? Ich habe ihn ja noch nie gesehen.“ – „Was Sie sagen! Das ist doch der liebenswürdigste aller Könige! Wir wollen auf sein Wohl trinken!“ – „Aber gern, meine Herren!“ – Und Candide trank. „So – das genügt vollkommen“, sagte man ihm, „nun sind Sie die Stütze, der Halt, der Beschützer und Held der Bulgaren; Ihr Glück ist gemacht und Ihr Ruhm gesichert.“ Auf der Stelle legte man ihm Fußeisen an und führte ihn zum Regiment.

Candide lernt im Krieg der Bulgaren gegen die Awaren die Schrecken des Krieges kennen, entkommt aber schließlich der Armee des liebenswürdigsten aller Könige, trifft seinen Lehrer Pangloß wieder, segelt mit diesem nach Lissabon, wo er pünktlich zur großen Erdbebenkatastrophe vom 1.November 1755 eintrifft. Zwar überlebt er die Katastrophe, wird aber bei einem anschließenden bel autodafé, einem schönen Glaubensgericht, das die Inquisition zur Verhinderung weiterer Erdbeben veranstaltet, bis aufs Blut ausgepeitscht, da er seinem Mentor, Pangloß, der wegen seiner ständigen Rede, daß alles gut sei, in den Verdacht geraten war, nicht an die Erbsünde zu glauben, mit beifälliger Miene zugehört hatte – Pangloß selbst wird gehenkt, woraufhin Candide

blutend, zerschunden, und schlotternd ausruft: Wenn das hier die beste aller Welten ist, wie muß es dann erst auf den anderen aussehen?

Die Reise geht weiter, und unser Held findet sich kurzfristig mit seiner Kunigunde wiedervereint, die er für tot gehalten hatte – Pangloß hatte ihm berichtet, sie sei von Soldaten des Königs von Bulgarien, die es im Zuge ihres Krieges mit den Awaren bis nach Westfalen (!) verschlagen hatte, geschändet und anschließend erschlagen worden. In Wirklichkeit war Kunigunde von einem bulgarischen Hauptmann an einen jüdischen Hofbankier verkauft worden, der sie nach Portugal in ein Landhaus brachte, wo er sie mit dem spanischen Großinquisitor teilte. Nachdem Candide die beiden Besitzer seiner Kunigunde getötet hat, flieht er mit ihr und einer alten Dienerin nach Südamerika, wo er Kunigunde in Buenos Aires an den mächtigen Gouverneur Don Fernando abtreten muß, einen notorischen Schürzenjäger, dem sie als die schönste Frau [erschien], die er jemals gesehen. Candide selbst muß vor spanischen Polizeidienern, die ihm, dem Mörder des Großinquisitors, dicht auf den Fersen sind, von Buenos Aires nach Paraguay fliehen.

In Paraguay begegnet er dem Bruder Kunigundes, der sich bei den dortigen Jesuiten als Geistlicher und Armee-Kommandant verdingt. Zunächst ist die Wiedersehensfreude groß, und Tränen fließen, doch als der Jesuitenbruder erfährt, daß Candide seine Schwester ehelichen will, gerät er in Rage: Was Sie unverschämter Mensch, Sie! Sie nehmen sich die Frechheit heraus, meine Schwester heiraten zu wollen, die einen Stammbaum von zweiundsiebzig Ahnen hat? Er attackiert Candide mit dem Degen, dieser wehrt sich, ersticht seinen Gegner – und muß sich erschüttert vorhalten, daß er nunmehr den dritten mörderischen Beitrag zur Schlechtigkeit der besten aller Welten geleistet hat …

Wird fortgesetzt