Montag, 31. Dezember 2007

Silvester




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Silvester war zum einen ein römischer Bischof des 4. Jahrhunderts, ein Zeitgenosse Kaiser Konstantins, zu dessen Bedeutsamkeit, so das Heiligenlexikon, sein eigenes Wirken wenig beigetragen hat (es geht um Silvesters Bedeutsamkeit, nicht um diejenige Konstantins) - eine Formulierung, die zu allerlei Überlegungen Anlaß geben könnte - von wegen "eigenes Wirken" und "Bedeutsamkeit". Würde aber jetzt zu weit führen. Bzw. - ich habe meine diesbezüglichen Überlegungen wieder gelöscht, wäre aber durchaus neugierig auf diejenige von anderen ...


Silvester ist zum anderen der Name eines Textes, den ich zur Jahreswende 1999/2000 geschrieben habe.

Silvester
1

Sieben Tage und sieben Nächte, nein zwei Tage und keine Nacht hat Bernd die Silvesternachtmusik vorbereitet. Eine CD nach der anderen auflegen kann jeder. Aber der Bernd hat einen Ruf zu wahren. Seit sieben Jahren finden die Gäste Bernds Silvesternachtmusik ganz besonders toll und Bernd will, daß es so bleibt. Daher ist er Stunde um Stunde vor der Musikanlage gesessen und hat den Inhalt von vielen CD’s in wenige Minidisks gegossen, bis er die Musik für die Silvesternacht so geordnet hatte, wie er sie haben wollte. Auf jeder Minidisk steht mit grüner Leuchtschrift eine Nummer, so kann auch ein anderer die Tanzmusik betreuen, wenn der Bernd wieder einmal durch die Zimmer geht und die neu angekommenen Gäste begrüßt. Den meisten Gästen muß sich der Bernd als Gastgeber vorstellen, weil er diejenigen, die er kennt, alle gebeten hat, so viele Leute mitzunehmen wie nur möglich.
Jetzt sitzt wieder der Bernd selbst hinter der Musikanlage in der Ecke des kleinen untervermieteten Zimmers, das unmittelbar an das Wohnzimmer anschließt, wo das Tanzen stattfindet und spielt „Aber bitte mit Sahne” von Udo Jürgens.
Ich sitze im Wohnzimmer auf der Chaiselongue. Ein großer Teddybär umarmt mich von hinten, seine Knollennase bohrt sich zwischen meine Schulterblätter, seine pummeligen Beine klammern sich seitlich an meinen Hintern. Gerade singt der Udo Jürgens: „ ... daß der Herr ihren Weg ins Himmelreich bahne ... aber bitte mit Sahne ”. Ich glaube zuerst, daß es in dem Lied um drei Schulmädchen geht, die in einer Konditorei Mehlspeisen mit viel Sahne essen, während sie die Schule schwänzen und daß ein Mädchen nach dem anderen stirbt. Ich frage die Lisa, die in dem großen Ohrensessel sitzt, warum und woran die Schulmädchen sterben. Die Lisa erklärt, daß das Lied nicht von Schulmädchen, sondern von drei älteren Frauen handelt, die regelmäßig zum Mehlspeisen-Essen in eine Konditorei gehen.
Auf dem dunklen Wohnzimmer-Parkettboden erscheint barfüßig ein Mädchen mit langen rotbraunen Haaren und stämmigen Waden. Es hat einen schwarzen Rock an, der bis zur Mitte ihrer stämmigen Oberschenkeln reicht. Das Mädchen ist mir schon vorhin aufgefallen, als sie sich über die Bank des Fensters zum Innenhof mit den vielen Platanen beugte, ihr Rock hatte sich über ihren Hintern gespannt, der sich sowohl nach hinten wölbte, als auch seitlich ausladend war, was selten vorkommt, wie man sich bei genaueren Hinsehen auf Mädchenhintern überzeugen kann. Das Mädchen nenne ich im Geiste Sybille, weil sie drall ist und mich an eine dralle Sybille von früher erinnert. Jetzt schießt die dralle Sybille auf die Lisa zu, mit der sie in der Küche gerade ein paar Worte gewechselt hat, klopft ihr zweimal auf die Schultern und ruft: „Abba!”, obwohl der Udo Jürgens gespielt wird. Dann verschwindet sie wieder in der Menge und ich verliere sie aus den Augen.

Ich bin mit der Lisa zehn Jahre verheiratet gewesen. Seit Oktober sind wir geschieden. Wenn die Mutter fragt, warum ich die Lisa verlassen habe, sage ich, die Leidenschaft habe gefehlt. Auch der Lisa sage ich, daß die Leidenschaft gefehlt hat. Dem Bernd sage ich dasselbe. Er freue sich, hat der Bernd bei der Begrüßung gesagt, daß wir beide zu seiner Silvesterparty gekommen sind. Lisa und ich sind die ersten Gäste gewesen. Ich war froh gewesen, daß sonst noch niemand da war, weil ich nicht gewußt hätte, wie ich hätte tun sollen, wenn sie mich Hand in Hand mit der Lisa bei der Tür hätten hereinkommen gesehen.
Aber als die Gäste gekommen waren, waren sie mir alle fremd gewesen.

Die dralle Sybille ist wieder zu sehen. Sie steht hinten beim Fenster, über das sie sich vorhin gebeugt hat, und das zum Innenhof mit den Platanen aufgeht. Sie bewegt die drallen Arme zackig auf und ab, dazu nickt sie in einem fort.
In der Küche erzähle ich später - neben der Cornelia stehend - rasch aufeinanderfolgende laute Witze. Ich habe mitbekommen, daß die Cornelia mit der Sybille gekommen ist. Die Cornelia hat Glupschaugen und einen sehr flachen Hintern. Mit Seitenblicken in kurzen Abständen zeige ich der Sybille, daß ich mich für sie und nicht für die Cornelia interessiere.

Wieder im Wohnzimmer sagt mir Lisa ins Ohr, sie sei, obwohl wir nicht mehr verheiratet seien, auf die Dralle eifersüchtig. Die Lisa nennt die Dralle die Dralle, so wie ich sie in Gedanken die Dralle nenne, weil sie meine Gedanken kennt. Ich habe gerade die Lisa gebeten, sich den Arsch der Drallen anzusehen, der sich wieder über die Fensterbank spannt. Der Arsch der Drallen, erkläre ich Lisa (ich nenne die Dralle der Lisa gegenüber nicht „die Dralle“, sondern nur „das Mädchen”) sei größer und ihre Beine dicker, als der Arsch und die Beine der Lisa, woraus folge, daß die Figur der Lisa besser sei, als die der drallen Sybille. Trotzdem, erkläre ich der Lisa, sei der Arsch der Sybille für mich immer noch ein guter Arsch und ihre Beine immer noch gute Beine.
Als wir verheiratet waren, ist die Lisa immer gelassen geblieben, wenn ich sie auf andere Frauen aufmerksam machte, die dickere Beine, Arme, Brüste oder Ärsche hatten als sie. Auch war sie gelassen geblieben, als ich jedesmal weiters erklärt hatte, daß mir diese Frauen trotzdem gefielen. Nie hatte sich die Lisa, als wir verheiratet waren, auf solche Frauen eifersüchtig gezeigt. Jetzt aber, da wir nicht mehr verheiratet sind, ist die Lisa eifersüchtig auf die dralle Sybille, die uns gerade ihre Vorderseite zeigt und mit den Armen in der Luft herumrudert.

In der Küche rede ich mit der Cornelia über eine Ansichtskarte, die auf dem weißen Küchenschrank klebt, die Reproduktion eines Biedermeyer-Gemäldes. Man sieht eine Stufenpyramide, die die Lebensalter des Mannes darstellt. Auf der höchsten Stufe steht ein Fünfzigjähriger im schwarzen Frack, der viel jünger aussieht als fünfzig. Auf der Stufe selbst steht ein Spruch, der besagt, daß es ab Fünfzig unaufhaltsam bergab geht. Der Zwanzigjährige, der auf der zweiten Stufe steht, hat in der einen Hand einen Blumenstrauß, mit der anderen faßt er ein Biedermeyer-Mädchen um die Taille. Der Dreißigjährige ist ein Jäger und hat Kind und Frau neben sich. Auf den anderen Stufen stehen die Männer allein da. Weil allen in der Küche fad ist, hören sie mir alle zu, wie ich der Cornelia, laut genug, daß es die dralle Sybille hört, die kleinen verschwommenen Schriftzüge der Sprüche auf den Pyramidenstufen vorlese. Um den dummen und abgeschmackten Sprüchen den Anschein von Bedeutung und Würde zu geben, mache ich zu jedem Spruch mit dem rechten Zeigefinger zackige Bewegungen. Alle lachen und ich lache am lautesten. Einmal schaue ich beim Lachen der Drallen direkt ins Auge. Bei Licht betrachtet ist sie nicht hübsch. Sie lächelt mich an. Ich denke: „O wenn Dein Gesicht Deinem großartigen Arsch entsprechen würde“, und lächle zurück während ich mir vorzustellen versuche, wie das Gesicht der Sybille ausschauen müßte, um ihrem Arsch zu entsprechen.

Um Mitternacht stoße ich mit Lisa, Bernd und Bernds Freundin, Petra, an. Dann tanzen die Lisa und ich den Neujahreswalzer. Seit der Hochzeit mit den hundert Gästen im Restaurant am Grazer Schloßberg haben wir nicht miteinander getanzt. Ich bin Nicht-Tänzer. Und auch Lisa, die den Goldstar hat, hat seit der Hochzeit nicht mehr getanzt.

Nach dem Neujahreswalzer verschwindet die Lisa. Erst denke ich, sie sei am Klo. Ich sitze wieder auf der Chaiselongue neben dem Riesen-Teddybären, der jetzt auf dem Rücken liegt und auf die Decke schaut. Die dralle Sybille tanzt mit einem kleinen Dunkelhaarigen, der sich in der Küche neben die Lisa gesetzt und mit ihr hatte reden wollen. Die Lisa, als ich sie beim Walzertanzen gefragt hatte, was sie von dem „kleinen Schwarzen“ halten würde, hatte gemeint : „Zu klein, uninteressant.” Auch als wir verheiratet waren, hatte die Lisa, wann immer ich sie gefragt hatte, wie ihr ein anderer Mann gefallen würde, ihn entweder zu klein gefunden oder uninteressant.
Als sie vor mir stehen, läßt der kleine Schwarzhaarige von der drallen Sybille und tanzt mit Cornelia weiter. Die Sybille wirft ihre Hände in die Höhe, als ob man hinter ihr „Hände hoch!” gerufen hätte und sagt: „Schicksal!”. Dann nimmt sie mich bei der Hand, reißt mich hoch und beginnt sich mit mir zu drehen. Es ist ein Walzer, aber nicht mehr der Neujahreswalzer. Ich erkläre der Sybille, daß ich kein Tänzer bin, aber sie meint, daß sie mich schon führen würde. Während sie mich herumdreht, merke ich, wie kräftig sie ist.

Die Lisa kommt wieder ins Wohnzimmer. Ich sehe ihr Gesicht im Halbdunkel und weiß, daß sie vorhin aus dem Zimmer gegangen ist, weil auch sie an den Hochzeitswalzer hat denken müssen. Ich küsse die Sybille flüchtig auf die Backen und wünsche ihr für das neue Jahr alles Gute. Dann gehe ich Hand in Hand mit der Lisa aus dem Wohnzimmer in Bernds Schlafzimmer. Dort türmen sich die Mäntel der Partygäste auf dem Futon-Bett und auf der weißen IKEA-Truhe. Wir gehen zum Schlafzimmerfenster, das zu dem anderen Innenhof aufgeht, der kleiner und schmutziger ist als der Innenhof mit den Platanen, und wo nichts wächst. „Ich vermisse Dich.”, sagt die Lisa. Es sei nicht nur so, daß wir jetzt, da wir wieder reden könnten, bloß gute Freunde seien. Ja, es ist mehr, bestätige ich.

Ich denke an Ravenna. Einige der Kirchen hatte man auch nachts besichtigen können. In einer der Kirchen hatte es irgendwo Wasser gegeben, vielleicht in einer Krypta. Lisa und ich waren Hand in Hand an einem Geländer gestanden und hatten ins Wasser hinuntergeschaut. In meiner Erinnerung ist das Wasser dunkel, aber es gibt auch lichte Stellen, wo sich die Mosaikfiguren spiegeln. Die meisten Figuren sind Tiere, ein Storch kommt mir in den Sinn, ein weißer Storch mit einem hellorangen Schnabel vor einem grünen Mosaik-Hintergrund.

Unten im Innenhof ist gerade so viel Licht, daß man erkennen kann, daß die Pflastersteine gelb sind wie schlechte Zähne, und daß ein schmaler Eisenbahngleis den Hof überquert. Bernds Großvater, der aus dem Böhmischen stammte, war Fabrikant gewesen und hatte seine Fabrik hier im Haus.

„Willst Du nicht ... wollen wir nicht ins Wohnzimmer?“, frage ich Lisa. „Du kannst ja gehen“, sagt sie „Ich will Dir kein Klotz am Bein sein“. „Nein, nein“. Ich strecke mich auf Bernds Ehebett aus. Ich schaue auf die Uhr, es ist halbzwei, jetzt bin ich müde. Trotzdem setze ich mich wieder auf und beginne nach den Freunden zu fragen. Am Telefon, wenn ich nicht weiter weiß, frage ich auch nach den Freunden, das sind die gemeinsamen Freunde in Graz.
Obwohl sie, als ich von der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, nach Wien ziehen wollte, ist die Lisa in Graz geblieben. Ich hatte schon immer von Graz wegziehen wollen, weil ich nie freiwillig nach Graz gekommen war, immer war ich dort hingebracht worden, das erste Mal durch Geburt, das zweite Mal als Zwölfjähriger von den Eltern, das letzte Mal wegen der Krankenhausstelle.
Als ich mich, Monate nach meinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, in der Schweizer-Klinik beworben hatte, hatten wir uns wieder besser verstanden. Ich war wieder in die gemeinsame Wohnung gezogen. Das war im März gewesen. Die Freunde hatten gemeint: „Vielleicht könnt ihr es in der Schweiz nochmal versuchen“. Die Lisa hatte gemeint: „Vielleicht bist Du zufriedener in der Schweiz“. An einem Sonntag auf einer frischgestrichenen Bank im Grazer Stadtpark sitzend, hatte ich der Lisa erklärt, daß ich allein in die Schweiz gehen würde. Das war im Mai gewesen.

Die Tanzfläche im Wohnzimmer ist so überfüllt, daß uns die Tänzer regelmäßig auf die Zehen steigen. Die Lisa sitzt jetzt wieder im Ohrensessel und ich auf der Chaiselongue. Auch die dralle Sybille, während sie eng umschlungen mit der Cornelia tanzt, tritt mir auf die Zehen. Sie merkt es, dreht den Kopf zu mir um und zwinkert mir über die rechte Schulter zu. Auf einmal sehe ich die dralle Sybille nur mit einem weißen Höschen bekleidet, vor mir auf dem Bett. Der hintere Teil ihres Höschens hat sich in ihre Arschspalte hineingerollt. Ich beuge mich über ihren Arsch und blicke in die Spalte hinunter. Es ist ein Abgrund der wächst und weiter wächst. Tief unten, am Grund des engen Tales zwischen den beiden Arschbackenbergen liegt wie eine weißgetünchte Pipeline der eingerollte hintere Slipteil. Ich gebe mir einen Ruck und lege mich auf den Sybillen-Arsch. Mein Unterleib verschwindet in der steilen Landschaft. Ich fasse die Sybille an den Oberarmen und beuge mich hinunter bis meine linke Gesichtshälfte ihr rechtes Gesicht berührt. Ich flüstere „Hallo”, ganz leise, als klebten meine Lippen an ihr rechtes Ohr. Die Sybille blickt mich verzückt an. Ihr Gesicht verändert sich und ist jetzt noch weniger hübsch, als vorhin in der Küche. Das Weiche an ihrem Gesicht läßt es jetzt wie eine Teigmasse aussehen, die auseinanderfallen wird. Die Augen, die Nase, die Lippen im Gesicht der Sybille gleiten auseinander und werden länger und breiter. Ich schüttle ein paar Mal den Kopf und bin wieder da.

Eine Frau mit blassem Gesicht und roten Haaren hat sich neben mich auf die Chaiselongue gesetzt. Sie spricht zu einer anderen, einer großen dunkelhäutigen Frau, die neben ihr sitzt. Weil sich die zwei Frauen einander vorgestellt haben, sobald sie sich beide, vom Tanzen geschafft, auf die Chaiselongue haben fallen lassen, weiß ich, daß die mit dem blassen Gesicht Eva und die Dunkelhäutige Lisa heißt. Irgendwann beginnt die Eva der Dunkelhäutigen von einem schottischen König zu erzählen. Ich weiß nicht wie die Eva auf den schottischen König kommt, vielleicht weil sie Dokumentarfilme macht. Vielleicht habe ich auch etwas versäumt, weil mir noch die weiße Pipeline am Hinterteil der Sybille nachhängt. Der schottische König, erzählt die Eva, sei liebestoll gewesen. Jeden Abend habe er, als Bettler verkleidet, an der Tür eines anderen Bürgerhauses geklopft und um Verpflegung und Unterkunft für eine Nacht gebeten. In der Nacht habe er dann die Tochter des Hauses verführt. Mit der Zeit habe das Gerücht vom liebestollen, als Bettler verkleideten König in Schottland die Runde gemacht. Daraufhin hätten tausende Schottenmädchen, die schon immer davon geträumt hatten, eine Nacht in den Armen des liebestollen Königs zu verbringen, gewöhnliche Bettler, die zufällig Unterkunft in ihrem Haus gefunden hatten, verführt, in der Meinung, es handle sich bei den gewöhnlichen Bettlern um den liebestollen König. Der Witz dabei sei, so die Dokumentarfilmemacherin Eva, daß keines der Mädchen je erfahren hätte, ob sie es mit einem gewöhnlichen Bettler oder mit dem König getrieben hatte, weil sie gar nicht erwartet hätte, daß der als gewöhnlicher Bettler verkleidete vermeintliche König sein Inkognito preisgeben würde. Der König wiederum, hätte nicht mehr wissen können, ob das Mädchen, das er gerade verführte, seinem Zauber als Mann verfallen war, oder ob sie sich ihm nur hingegeben hatte, weil sie in ihm den König gesehen hatte.

Die Lisa, die Anglistik studiert hat und als Englisch-Übersetzerin arbeitet, meint, daß ihr der liebestolle schottische König nichts sage. Die Filmemacherin und die dunkelhäutige Lisa sitzen nicht mehr auf der Chaiselongue. Sie tanzen eng umschlungen und barfüßig wie vor ihnen die Cornelia und die Sybille mitten auf dem Parkettboden in Bernds Wohnzimmer. Die Eva läßt die Fingerspitzen ihrer Rechten auf dem Rücken der dunkelhäutigen Lisa auf und ab fahren, wobei sie die Hand schüttelt, als ob sie Gitarre spielen würde. Die dunkelhäutige Lisa ist, wie ich jetzt sehen kann, groß und sehr zierlich. Die Eva und die dunkle Lisa sind jetzt die einzigen Tänzer auf dem Wohnzimmer-Parkett. Ich mache die Augen zu und sehe keine Bilder mehr. Es gibt nichts als das Hämmern der Technomusik.

Die dralle Sybille steht wieder bei der Fensterbank, reibt ihren ausladenden Hintern an ihr und beugt sich immer weiter zurück, wie Akrobatinnen im chinesischen Zirkus, bis sie fast zum Himmel - er ist fahl und dunkelgrau heute Nacht - hinaufschauen kann. Die Lisa - meine Lisa - ist wieder eingenickt. Auf dem Parkettboden von Bernds Wohnzimmer tanzen wieder mehr Leute.
Ich stehe auf und stelle mich wortlos neben die Sybille.
„Wenn Du so weiter machst, Sybille, wirst Du abstürzen.“, sage ich ihr. Die Dralle schwitzt und ich rieche ihren Schweiß, weil sie immer noch dabei ist, sich weiter und weiter zurückzubeugen. Sie kämpft um jeden Millimeter.
„Ich heiße Gerlinde“, sagt sie vor Anstrengung stöhnend, während sie den fahlen Nachthimmel anstarrt. „Wie kommst Du auf Sybille?“
„Ich habe einmal eine Sybille gekannt. Sie war auch so ... wie Du ... so drall.“ „Und - war es Liebe?“
„Es war mehr eine Affäre. Ich war damals verheiratet.“
„Und jetzt? Was bist Du jetzt?“
„Geschieden. Meine Ex-Frau sitzt dort im Ohrensessel“.
Die Gerlinde schnellt hoch wie ein Stehaufmännchen und fängt prustend zu lachen an. Sie wackelt noch ein paar Mal vor und zurück bis sie ganz zum Stehen kommt.
„Deine Ex ist aber hübsch“, sagt sie, „gar nicht drall ... eher aristokratisch würde ich sagen. So wie ihr miteinander ... so wie Du mit ihr tust, dachte ich, daß ihr zusammen seid. Du kümmerst Dich ... so ... um sie.“
„Wir waren zehn Jahre zusammen. Letztendlich ... die Leidenschaft hat gefehlt.“
Zwischen der Gerlinde und mir an der Fensterbank und der Lisa im Ohrensessel haben sich mittlerweile so viele Gäste gestellt, daß die Lisa, wie sie im Ohrensessel den Kopf hängen läßt nicht mehr zu sehen ist. Zwischen Gerlindes Mund (ihre Lippen sind weder dick noch dünn, weder hart noch weich) und meinem Ohr hat sich Bernds Musik geschoben, die immer lauter wird. Eine Nummer aus der Rocky-Horror-Picture-Show.

„Don’t get strung out by the way I look.
Don’t judge a book by its cover.
I’m not much of a man by the light of day.
But by night I’m one hell of a lover.“

Mir fällt ein, daß die Lisa und ich nie auf Hochzeitsreise waren. Im Geiste sehe ich die Lisa mit dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show, wie er sie gerade befummelt und wie sie heißer und heißer wird vor Verlangen. Das Gesicht der ansonsten blassen Lisa in meinem Geiste ist hochrot aber auch die ansonsten blasse Haut ihres Halses, ihrer Arme und ihrer Beine ist vor lauter Verlangen und Erregung hochrot, wie nach einem Sonnenbrand.
Ich denke, die Lisa, wenn sie mit mir wirklich auf Hochzeitsreise unterwegs gewesen und dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show in die Hände gefallen wäre, wäre ganz cool geblieben, weil sie ihn uninteressant gefunden hätte. Später hätte sie mir unberührt von seinen Annäherungsversuchen erzählt, wahrscheinlicher aber ist, daß sie die Annäherungsversuche des Frank’N’Furter gar nicht als solche wahrgenommen hätte, so wie sie, als wir verheiratet waren, nie die Annäherungsversuche der Männer als solche wahrgenommen hatte, obwohl ich sie jedesmal darauf aufmerksam gemacht hatte, mit den immer gleichen Worten, jeder Blinde könne sehen, daß dieser oder jener einen Annährungsversuch in ihre Richtung hatte machen wollen.

Ich möchte zur drallen Sybille sagen, daß ich sie berühren und abtasten möchte, daß ich ihren drallen Körper mit den Händen abtasten und mit spitzen Fingern in sie hineinfahren, in alle ihre Körperöffnungen hineinfahren möchte. Aber ich bin müde, müder als vorhin, als ich neben der Lisa auf Bernds Ehebett liegend auf die Uhr geschaut hatte.

Ich muß mit jemandem reden. Die Lisa schläft immer noch. Auch kann ich mit der Lisa nicht darüber reden, daß ich die Dralle haben will, aber nicht haben kann, weil ich müde bin und weil sie, die Lisa, da ist, wenn auch die halbe Zeit schlafend. Vielleicht steckt mich Lisas Müdigkeit an. Als wir verheiratet waren, kam ich, wenn ich der Lisa etwas erzählen wollte des öfteren nicht weiter, oder ich kam nur ganz schleppend weiter, weil mir die Worte nicht einfallen wollten, und ich fragte dann sie, weil ich glaubte, sie sei zuständig für die Worte, weil sie beruflich mit Sprachen zu tun hat, nach Worten, die mir nicht einfallen wollten. Kein einziges Mal war der Lisa auch nur ein Wort, nach dem ich gefragt hatte, eingefallen. Ich hätte sie würgen können in diesen Momenten, weil ich das Gefühl hatte, sie verweigere mir meine, mir zustehenden Worte.

Ich gehe zum Bernd, der gerade in das an sich untervermietete Zimmer neben dem Wohnzimmer gelaufen kommt und hektisch an seiner Musikanlage herumzudrehen beginnt. Ich traue mich nicht, zu sagen, daß ich reden möchte. Ich frage ihn bloß, ob ich den Sessel, der neben dem Bücherregal im untervermieteten Zimmer steht, ins Wohnzimmer mitnehmen darf.
„Ich kann jetzt nicht reden“, sagt Bernd, ohne mich anzusehen. „Ja, den Sessel kannst nehmen.“

Ich gehe zur schlafenden Lisa zurück und setze mich auf die linke Ohrensessel-Armlehne. Plötzlich wacht sie auf und starrt mich an.
„Gehst Du jetzt in den Keller?“, fragt sie.
„Wieso in den Keller?“
„Na, die Winterreifen holen.“
Ich weiß was los ist. Ich fasse sie sanft am linken Handrücken.
„Hey, Baby, ist ja gut.“ Die Lisa zieht ihre Linke heftig zurück.
„Ich bin nicht verwirrt!“ faucht sie mich an.
Als wir verheiratet waren war, war die Lisa immer wieder einmal verwirrt aus dem Schlaf aufgefahren und hatte wirres Zeug geredet. Früher hatte ich sie, wenn sie aus dem Schlaf aufgefahren war und wirres Zeug geredet hatte, sanft in die Arme genommen und ihr gesagt, daß es schon gut sei und daß sie verwirrt sei. Das hatte sie immer wütend und die Wut hatte sie nüchtern gemacht. Später hatte ich nichts mehr gesagt, sie bloß in die Arme genommen und festgehalten.

„Ich kann nicht mehr“, sagt die Lisa. Sie steht auf und geht schwankend in Bernds Schlafzimmer. Ich gehe mit. Im Schlafzimmer türmen sich auf dem Bett und auf der weißen IKEA-Truhe die Mäntel der Party-Gäste. Wir legen alle Mäntel, die auf dem Bett liegen auf die Truhe und legen uns ohne uns auszuziehen nebeneinander auf Bernds Ehebett. Ich schaue auf die Uhr. Es ist Viertel nach zwei. Ich bin nicht sicher, ob ich noch müde bin. Ich sehe die Dralle wie sie in weißer Unterwäsche eng umschlungen mit dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show tanzt, ich sehe wie der Frank’N’Furter seine Fingerspitzen am Rücken der Drallen auf und abfahren läßt, wie seine rechte Hand in dem weißen Höschen verschwindet. Das Wort „Höschen“ spüre ich auf meiner Zunge, obwohl ich es nur gedacht habe. Das Wort „Höschen“ auf der Zunge zu spüren ist köstlich, ich kann seine Buchstaben riechen und schmecken, ich kann das ö des „Höschens“ mit der Zungenspitze berühren, es ist eng und weich und heiß. Ich fahre mit der Zungenspitze ins ö des Höschens hinein und streiche mit den Fingerkuppen über die weichen, stimmhaften Buchstaben „s“ und „ch“ des Höschens. Ich beneide den Frank’N’Furter nicht nur um die dralle Sybille, die er gerade nimmt, sondern vor allem darum, daß er in das Höschen hinein darf.

Ich drehe mich zur Lisa um. Sie starrt auf die Decke. Ob sie weiß, daß ich gerade ... Ich mache die Augen zu. Vorhin bin ich von der Sybille an der Fensterbank wortlos weggegangen. Sie hat wohl gemerkt, daß ich mit der Lisa in Bernds Schlafzimmer gegangen bin und es bis jetzt nicht mehr verlassen habe. Die Sybille wird sich wohl denken, das mit der Scheidung ist ein Schmäh gewesen, das ich ihr - weiß der Kuckuck warum - erzählt habe, oder sie wird sich denken, daß das mit der Scheidung schon stimme, aber daß ich die Lisa wieder zurück haben wolle und daß ich sie, die Sybille, nur benütze, um die Lisa eifersüchtig zu machen.
Lange Zeit starre ich auf die Decke bis ich merke, daß die Lisa eingeschlafen ist. Ich hatte gedacht, daß ich, sobald die Lisa eingeschlafen ist - sobald ich sie schlafen gelegt habe, hatte ich gedacht - , sofort ins Wohnzimmer zurück würde zur Sybille und zu den Tänzern. Aber ich bleibe liegen. Ich bin nicht müde und bleibe trotzdem liegen. Ich hatte gedacht, daß ich, egal ob müde oder nicht, ins Wohnzimmer zurück würde, sobald nur die Lisa schläft. Auch als Todmüder hatte ich gedacht, würde ich ins Wohnzimmer zur Sybille zurück. Jetzt aber bin ich hellwach und gar nicht müde und bleibe dennoch liegen und weiß, daß ich liegen bleibe bis ich einschlafe.

Drei, vier Hände tasten meinen Körper ab, es sind Frauen- und Männerhände. Ich setze mich auf und reibe mir den Halbschlaf aus den Augen. Jemand dreht das Licht auf. Cornelia und der kleine Dunkelhaarige stehen am Bettrand und starren mich entsetzt an. Wir haben unsere Mäntel gesucht, stammeln sie gleichzeitig, wir hatten sie auf dem Bett abgelegt gehabt. Dann fangen sie gleichzeitig prustend zu lachen an, genauso wie vorhin die Gerlinde an der Fensterbank, als ich ihr erklärt hatte, daß ich geschieden sei. Ich stehe auf und drehe das Licht ab. Es wundert mich, daß ich eingeschlafen bin. Wollte ich nicht ins Wohnzimmer gehen, zur Sybille und zu den Tänzern? Bin ich so müde, gewesen, daß ich gegen meinen Willen eingeschlafen bin? Cornelia und der Dunkelhaarige verlassen grußlos das Schlafzimmer.
Als ich wieder aufwache, ist es still in der Wohnung. Im Halbschlaf, nachdem die Cornelia und der Dunkelhaarige weg gegangen waren, habe ich noch andere ins Zimmer kommen und Mäntel holen gehört. Keiner hat an meinem Körper herumgetastet. Es hat sich wohl herumgesprochen, daß zwei in Bernds Ehebett liegen, die die Mäntel auf dem Bett auf die IKEA-Truhe gelegt haben. Es hat sich wohl auch herumgesprochen, daß zwei in Bernds Schlafzimmer liegen, die im Oktober sich scheiden haben lassen, die Hand in Hand zur Party gekommen und die meiste Zeit beieinander gesessen sind, und die jetzt, ohne den Bernd zu fragen, sich nebeneinander in sein Bett gelegt haben.

Die Lisa ist die ganze Zeit über nicht aufgewacht. Im Halbschlaf habe ich Bernds Stimme gehört, wie er zu irgendwem sagte, der P. und die Lisa, das sind Freunde von mir, die übernachten auch hier. Ein Anderer übernachtet also auch hier. Der Bernd selbst übernachtet bei Petra, weil er schon seit langem de facto bei Petra wohnt und nicht mehr hier, bei sich. Ich frage mich, ob der Andere, der hier übernachtet nicht die Gerlinde sein könnte. Was würde denn dafür sprechen, daß unter den fünfzig Partygästen ausgerechnet die Gerlinde beim Bernd übernachten würde? Nichts würde dafür sprechen, daß von den fünfzig ausgerechnet die Gerlinde hier übernachten würde. Gesetzen Falles, sie wäre nicht in Wien zuhause sein oder würde nicht nach Hause gehen wollen - ist sie denn nicht hübsch genug um mitgenommen zu werden? Wenn sie nicht ohnehin mit jemandem hergekommen ist. Derjenige, der mit ihr womöglich hergekommen ist, hätte ja nicht ständig bei ihr sein müssen. Es ist doch üblich, daß ein Paar eine Party besucht, denke ich, ohne ständig beisammen zu sein. Die Cornelia und der kleine Dunkelhaarige zum Beispiel sind womöglich so ein Geheimpaar. Vielleicht hat der Dunkelhaarige die Cornelia aber erst hier auf Bernds Silvesternachtparty kennengelernt. Vielleicht hat er sich an die Cornelia herangemacht, nachdem er bei der Gerlinde abgeblitzt ist, die ihn womöglich zu klein findet, obwohl sie, im Unterschied zu der Lisa, kleiner ist als er, was ich bemerkt habe, als sie - die Gerlinde - eng umschlungen mit ihm getanzt hat.

Ich schaue zur Lisa hinüber. Sie hat den Mund halb offen, als wäre sie tot. Langsam stehe ich auf und gehe in Bernds Wohnzimmer. Es ist stockdunkel. Ich spüre trotzdem, daß das Wohnzimmer schon wieder blitzsauber ist. Der Bernd und die Petra sind schon jeder für sich saubere Menschen, als Paar sind sie außerordentlich saubere Menschen. Die Türe des kleinen an sich untervermieteten Zimmers (der Martin, Bernds Untermieter ist gerade verreist), das ans Wohnzimmer anschließt, ist zugesperrt. Dort drinnen liegt der Andere, der heute beim Bernd übernachtet. Über die Küche gehe ich ins Badezimmer, das ebenfalls neben dem kleinen untervermieteten Zimmer liegt. Auch die Türe zwischen dem Badezimmer und dem kleinen untervermieteten Zimmer ist zugesperrt. Auf einmal habe ich die absolute Gewißheit, daß dort drinnen niemand anderer liegt, als die dralle Sybille.

Was soll ich tun? Der Gedanke, die Nacht mit der drallen Sybille in derselben Wohnung zu verbringen, ohne den Versuch unternommen zu haben, sie zu nehmen, wäre unerträglich. Während ich auf den kalten Kachelboden von Bernds Badezimmer sitze, tanzt mir Sybilles draller Hintern im Geiste herum - Sybilles Hintern, wie er an die Fensterbank gerieben wird, wie er vor meiner Nase herumkreist, während ich auf der Chaiselongue sitze und die Sybille, mit der Cornelia tanzt, wie er sich mir darbietet, nackt mit dem eingeklemmten Pipeline-Höschen zwischen den Arschbacken. Zwischen den Bildern von Sybilles Hintern tauchen solche von ihrem Gesicht auf, das mir unhübsch vorgekommen war. Aber jetzt ist das Gesicht der drallen Sybille vom Gesicht der eigentlichen Sybille, der Sybille von vor zehn Jahren überlagert. Die frühere Sybille hatte ein hübsches Gesicht, ein rundes und dennoch sehr feines Gesicht. Ich hatte die Augen der früheren Sybille geliebt, obwohl ich vorhin der Gerlinde gesagt hatte, sie wäre nur eine Affäre gewesen. Die Augen der früheren Sybille waren wie sie schräg - wie die Augen einer Frau aus Ostasien - in ihrem Gesicht lagen, betörend gewesen. Wenn wir uns liebten, flüsterte ich ihr ins Ohr, ihre Augen würden mich liebestoll machen, obwohl wir uns, wenn wir uns liebten, niemals hatten sehen können, weil wir uns immer im Dunkeln liebten und mit geschlossenen Augen. Die eigentliche Sybille war, als ich sie kennenlernte, achtzehn gewesen und ich siebenundzwanzig.

Es muß etwas geschehen, sonst geht die Nacht vorüber ohne daß etwas geschieht.

Ich stehe auf und gehe zu der Türe hinter der - im kleinen untervermieteten Zimmer - die dralle Sybille schläft. Im Schlüsselloch steckt ein verrosteter Schlüssel, den ich herauszuziehen versuche, um in das untervermietete Zimmer hineinschauen zu können, als könnten meine Augen in dem stockdunklen Zimmer irgendetwas erkennen. Aber der alte, verrostete Schlüssel scheint mit dem Schlüsselloch verwachsen zu sein. Ich ziehe fester und fester bis mir klar wird, daß, wenn ich fortfahre an dem Schlüssel zu ziehen, die Türe aus dem Rahmen fallen könnte.
Ich kann nicht anders. Ganz langsam drücke ich - mit beiden Händen - die Türklinke hinunter. Das Zittern meiner Hände ignoriere ich, so gut es geht. Plötzlich beginnt die Türklinke laut zu quietschen. Ich habe Angst. Nicht nur die Sybille, auch die Lisa im Schlafzimmer wird aufwachen. Die Lisa, nachdem sie aufgewacht ist, wird in einem noch nie dagewesenem Verwirrtheitszustand durch die Wohnung laufen, vielleicht wird sie derart verwirrt sein, daß sie nicht merken wird, was passiert. Ich lasse ich die Türklinke aus. Dann gebe ich mir einen Ruck und stoße die Tür zum kleinen an sich untervermieteten Zimmer zwischen Bernds Bade- und Wohnzimmer auf.

2

Die dralle Sybille sitzt vor dem kleinen Tisch auf dem die Musikanlage gestanden ist - der Bernd hat sie wohl schon zur Petra mitgenommen - in einem Bürosessel, ein dicker, großer Foliant liegt vor ihr. Sie hebt den Kopf und dreht ihn lässig in meine Richtung, als hätte nicht das Knarren der Türklinke, sondern ein Windhauch an ihrer nackten Schulter sie gestört. Außer der hellgrünen Unterwäsche hat sie nichts an. Aber nicht nur Sybilles Unterwäsche ist grün, das ganze untervermietete Zimmer ist von einem hellgrünen Licht erfüllt. Es ist eine Art Meeresgrün, nur etwas greller, wie das Licht einer grünen Neonröhre, für ein reines Neonlicht aber wieder zu sanft. Das Licht nimmt mir mein Zittern und ich kann ruhiger atmen. Das peinliche Gefühl, das einer hat, der nachts, ohne anzuklopfen, in das Zimmer eines fremden Mädchens eindringt, hat mich verlassen.

Ich schaue auf die nackte Haut der drallen Sybille. Ich kann nicht aufhören ihre nackte Haut anzuschauen, nicht nur, weil es Sybilles nackte Haut ist, eine sehr weiße, aber nicht blasse Haut, nein, da ist noch etwas: Das sanfte, grüne Neonlicht hat sich wie ein grüner Film über alles in Bernds untervermietetem Zimmer gelegt. Nur die sehr weiße, aber keineswegs bleiche Haut der drallen Sybille ist vom allgegenwärtigen grünen Licht frei. Die Haut der Sybille ist eine Unterwasser-Insel, die umgeben von grünem Wasser, trocken geblieben ist, als gehörten das Höschen und der BH einer anderen Wirklichkeit an als die Haut.

Die Sybille dreht sich in ihrem Bürosessel halb zu mir um. Sie rückt nach vor, drückt ihr Kreuz durch und schiebt den Kopf zurück, so daß sie beinahe von unten zu mir hinauf schaut. Ihr Mund ist halb offen, sie schiebt ihre Unterlippe vor, lächelt verhalten und schaut mir in die Augen. Ich schaue zurück. Ihre Augen, obwohl frei vom meeresgrünen Neonlicht, sind im Meer versunkene Augen.
„Was ist das für ein Buch?“, frage ich.
Sie öffnet ihren Mund noch weiter. Ihre Lippen bilden ein O. Jetzt ziehen sie sich rasch zusammen und gehen genauso rasch wieder auseinander. Die dralle Sybille in der meeresgrünen Unterwäsche an Bernds Arbeitstisch sitzend, will etwas sagen, vielleicht hat sie etwas gesagt, aber ich habe nichts gehört. Jetzt nimmt sie einen zweiten Anlauf. „Du hast mich verletzt“, höre ich sie sagen, aber es ist nicht wirklich die halbnackte Sybille an Bernds Arbeitstisch, die das sagt. Die Worte kommen wohl aus ihrer Richtung, aber nicht aus ihrem Mund. Es ist, als würde das flüssige, grüne Licht selbst die Worte erzeugen, die aus Sybilles Mund zu kommen scheinen. Die Worte der drallen Sybille sind auf eigenartige Weise entstellt. Als hätte man in der Mitte zwischen ihr und mir ein grünes Lichtnetz ausgebreitet, ein Gewebe, durch dessen siebartige Maschen Sybilles Worte gedrückt würden, so daß sie, solange sie sich noch auf ihrer Seite des Netzes befinden, noch ganz sind, beim Durchgang durch das Lichtnetz aber zerstückelt werden. Auf meiner Seite finden sich die zerstückelten Wortteile zwar wieder, sie raffen sich irgendwie wieder zusammen, es sind aber nicht mehr dieselben Worte, die sie jenseits des Netzes noch waren - sie sind entstellt, verschoben, verdrückt. Genaugenommen hatte ich vorhin etwas anderes gehört. Nicht „Du hast mich verletzt“, vielmehr etwas wie „Dou hest möch vorlatzt“.
Mir wird kalt ums Herz.

Noch ein paar Mal ziehen sich die Lippen der drallen Sybille zusammen und gehen rasch auseinander. Wieder bleibt sie stumm dabei. Jetzt aber, wo ihre Lippen verschlossen sind, höre ich etwas:
„Aber ich verzeihe Dir“.
Wieder ist, wenn ich genau sein wollte, etwas anderes zu hören:
„Abarr öch verzaja derr.“
„Was verzeihst Du mir?“, frage ich und schaue dabei in ihre Richtung, als hätte die Sybille selbst den Satz gesagt. Die Sybille scheint meine Worte gehört zu haben. Sie schaut mich an, ein leichtes Zittern durchfährt sie, dann dreht sie ihren Kopf von mir weg und starrt die verschlossene Tür zwischen Bernds untervermietetem Zimmer und seinem Wohnzimmer an. Wieder höre ich etwas, aber es ist keine Stimme im Raum, sondern eine Stimme in mir, ich sehe auch Bilder, bewegte Bilder, eine Art Film, nein, Teile verschiedener Filme, die gleichzeitig und nacheinander in meinem Kopf vorgeführt werden. In den Filmszenen spielen die Sybille, nicht die jetzige Sybille, sondern die seinerzeitige Sybille und ich die Hauptrolle.

In den Filmszenen sehe ich mich, wie ich durch eine große fremde Stadt laufe und etwas unverständliches brülle, wie mir die Sybille nachläuft und wie ich zurückschaue, ob sie mir nachläuft, wie umgekehrt die Sybille durch eine andere große fremde Stadt läuft und ich ihr hinterherlaufe, beide brüllen wir, außer Atem, einander unverständliches zu. Wie wir in einem fremden Lokal sitzen und die Sybille weint und ich brülle und einen Teller auf eine Karaffe und dann auf den Tisch knalle, so daß der Teller auseinander bricht. Wie ich ins Klosett des fremden Lokals flüchte und lange warte, dann an den Tisch zurückkehre, an der die Sybille immer noch sitzt und auf den Boden starrt. Vom zerbrochenen Teller ist nichts mehr zu sehen. Wie mir in einem anderen fremden Lokal die Sybille gegenübersitzt, wie ich sie endlos anbrülle, bis ich ganz heiser und leise werde, wie die Sybille mich anstarrt, wie ich ihr auf einmal ins Gesicht spucke, wie sie aus dem fremden Lokal geht, wie dann ein dunkelhäutiger Kellner besonders freundlich zu mir spricht, beschwichtigend, was ich nicht aushalte, so daß ich das Lokal verlasse. Draußen trete ich in eine fremde Straße, wo mich Sybille erwartet, ihr Gesicht ist tränenverschmiert, aber sie lächelt und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich schaue ihre Hand an, die herabhängt, als hätte sie eine Handlähmung, ihre Finger sind klein und ihre Fingernägel ganz abgekaut. Die Sybille erzählt mir, daß der freundliche dunkelhäutige Kellner ihr Hilfe angeboten habe, sie habe aber seine Hilfe abgelehnt. Wie ich ein Mobiltelefon ans Ohr haltend mit zackigen Schritten durch eine fremde Hügellandschaft laufe, wie ich ins Handy hineinbrülle, wie meine Stimme erstickt, wie ich weine, wie ich ins Mobiltelefon hineinrufe und hineinweine, daß ich sie, die Sybille, nicht aushalte, wie die Sybille mir ins Mobiltelefon hineinsagt, daß es sie tödlich verletzt, daß ich sie nicht aushalte.
Wie ich im Wartehäuschen eines fremden Kleinstadtbahnhofs hineingehe und die dort sitzende Sybille zwinge mit mir in eine Wohnung zu gehen. Wie ich auf dem Weg in die fremde Wohnung mehrmals mit der Faust auf ihren Rücken einschlage, bis sie laut zu weinen beginnt. Wie ich sie in der fremden Wohnung einsperre, ihr die Geldtasche aus der Hosentasche ziehe und aus dem Fenster schmeiße. Wie ich sie in die Küche der fremden Wohnung zerre, und während ich sie am Oberarm festhalte und anbrülle, die Kühlschranktür aufreiße, einen halbleeren Fruchtjoghurtbecher über ihr Gesicht ausleere, Margarine, Orangen-Marmelade, Butter, Milch und Honig über ihren Körper ausleere. Wie ich sie ins Badezimmer der fremden Wohnung vor dem großen Schrankspiegel zerre, und sie anschreie, mit den Worten: „Schau Dich an, was Du bist!“. Wie sie etwas später in derselben fremden Wohnung zu mir ins Bett kommt, sich an mich schmiegt und mich anfleht, wir sollten wieder gut miteinander sein. Wie wir uns anschließend lieben und gleichzeitig kommen.

Das alles läuft in meinem Kopf ab, während der Körper der Sybille von heute nacht, die fortfährt, die verschlossene Tür zwischen Bernds untervermieteten Zimmer und seinem Wohnzimmer anzustarren, steif und bewegungslos wird. Plötzlich, ruckartig, als lenkte ein Anderer ihre Bewegungen, dreht sie mir den Kopf zu. Wieder ist eine Stimme im Raum. Wieder heißt es:
„Du hast mich verletzt“, eigentlich: „Dou host moch vorlatzt.“.
Dann, auf einmal, richtet sich die Sybille auf und schiebt den Bürosessel weg. Sie dreht mir den Rücken zu und beginnt mit der rechten Hand ihren nackten Rücken auf und abzufahren. Ihre Bewegungen sind wie das hellgrüne Neonlicht fließend und werden schneller und schneller, ihre beiden Hände beschreiben Kreise auf ihrem Rücken, die rechte Hand verschwindet in ihrem Höschen, ihre Linke fährt durch ihre rotbraunen Haare, wirft sie immer wieder nach vorn, packt sich dann plötzlich am Schopf und zieht ihren Kopf hinunter. Jetzt hat sie den Kopf so weit hinuntergebeugt, daß sie mit den Haaren den hellgrünen Parkettboden kehren könnte. Mit der anderen Hand hält sie den mittleren Teil ihres Höschens und zieht ihn rasch hinauf und hinunter. In einem langsamen Rhythmus beschreibt sie Kreise mit ihrem Arsch.

Die kreisenden Kopfbewegungen der Sybille werden langsamer bis sie ganz aufhören. Jetzt steht die Sybille aufrecht und kreist nur mehr ihren Arsch.
Die Filmszenen in meinem Kopf sind verschwunden. Ich frage mich, woher die Filmszenen kommen. Sie müssen etwas mit der Sybille von heute nacht zu tun haben, mit meinem Leben können sie jedenfalls nichts zu tun haben, so ratlos und verzweifelt wie die Filmszenen in meinem Kopf mich gemacht haben, bin ich in meinem Leben noch nie gewesen. Auch als ich die Lisa verlassen habe, bin ich nie wirklich ratlos gewesen oder verzweifelt. Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich die Lisa habe verlassen können. Dreimal bin ich in diesen eineinhalb Jahren aus der gemeinsamen Wohnung aus- und dann wieder in die gemeinsame Wohnung eingezogen, aber kein einziges Mal beim Ein- und beim Ausziehen bin ratlos gewesen oder verzweifelt. Wenn die Lisa hat mir vorhält, daß ich den ganzen eineinhalb Jahren weder verzweifelt gewesen bin noch ratlos, halte ich ihr entgegen, daß sie selbst derart verzweifelt und ratlos gewesen war, daß es für uns beide ausgereicht hatte.

Jetzt liegt die dralle Sybille auf dem Futon-Bett des untervermieteten Zimmers, auf dem - wie ich jetzt erst merke - kein Bettzeug liegt, sondern nur ein zerknittertes hellgrünes Leintuch. Der alte Foliant, der vorhin auf Bernds Arbeitstisch lag, liegt jetzt unter dem Schoß der drallen Sybille. Die Sybille liegt auf dem Bauch, ihr Arsch spannt sich über den dicken alten Folianten, so wie er sich vorhin über das Wohnzimmerfenster zum großen Innenhof mit den Platanen gespannt hatte. Irgendwann muß sie, ohne daß ich es bemerkt hätte, das neongrüne Höschen ausgezogen haben, sodaß ich jetzt alles, was Sybilles unterer Körper zu bieten hat, sehen kann. Ich denke und freue mich, daß die Sybille sich ausgezogen hat, um mir ihren Arsch darzubieten. Aber die Abwesenheit ihres Höschens enttäuscht mich. Ich finde die vielen weichen Falten und die rosa Schleimhaut, die jetzt zu sehen sind, abstoßend und unübersichtlich - feucht, viel zu weich und behaart, das genaue Gegenteil des Glatten, Festen und Klaren ihres Arsches, bevor sie ihr hellgrünes Höschen ausgezogen und mir ihren Schoß geöffnet hatte.

Ich denke, der Arsch der Sybille, bevor sie sich ausgezogen und ihren Schoß geöffnet hatte, war drall in das Nichts des leeren Raumes hineingeragt, um zu zeigen, daß es etwas gibt auf der Welt und nicht vielmehr nichts.

Aber die zerklüfteten Weichteile ihres offenen Schosses, die ich jetzt sehen muß (und bei denen ich, obwohl ich in der Tür in einiger Entfernung vom Körper der Sybille stehe, den Eindruck habe, sie wären mir vor die Nase gesetzt), sagen aus, daß das Nichts und die Leere des Raumes ihre Ausläufer tief in den Arsch der drallen Sybille gebohrt haben. Noch liegen die Weichteile des Schosses der drallen Sybille einander eng an. Aber das von behaarter Haut und weicher Schleimhaut überzogene Fleisch kann jederzeit auseinanderklaffen und die Höhlen, die es birgt in ihrer ganzen Häßlichkeit bloßlegen.

Niemals, als wir verheiratet waren, habe ich die Höhlen von Lisas Schoß anschauen wollen. Ich habe den Arsch der Lisa immer geliebt, obwohl er nicht so drall war, wie die Ärsche der früheren und jetzigen Sybille. Nichtsdestotrotz ist er fest und genügend groß. Ich habe den Arsch der Lisa, solange wir verheiratet waren, immer gerne angefaßt und betrachtet. Jedoch bereits die oberen Reihen von Lisas blonden Schamhaaren habe ich nicht sehen und anfassen wollen. Schon die oberen Reihen von Lisas Schamhaaren sind für mich niemals Ausstülpungen gewesen, die in den leeren Raum hinausragen, sondern Vorboten des Hineinragens des leeren Raumes in ihren Schoß. Daher habe ich die Lisa, solange wir verheiratet waren, stets nur im Dunkeln geliebt, daher habe ich, solange wir verheiratet waren, niemals den Kopf in den nackten Schoß der Lisa vergraben. Daher habe ich, solange wir verheiratet waren, niemals den offenen Schoß der Lisa gesehen.

Ich schaue wieder auf die Sybille. Auch ihr Büstenhalter ist weg. Sie liegt noch immer auf dem großen alten Folianten und beginnt jetzt ihren Schoß an seinem Deckel zu reiben. Ihr Hintern beschreibt kleine und große Kreise, nach mehreren Kreisen bewegt sie ihn blitzschnell und ruckartig nach vorne und unten, als ob sie den dicken, alten, unter ihrem Schoß begrabenen Folianten, vögeln würde.

Ich gehe auf den Körper der nackten Sybille zu und beuge mich über sie.Ich habe beschlossen, ihre Bewegungen als Aufforderung zu verstehen, ihrem Körper das anzutun, was sie dem Körper des Folianten antut.
Ich stütze die Hände beidseits ihres Körpers auf das zerknitterte Leintuch und senke meinen Körper zentimeterweise auf den Körper der drallen Sybille.

Auf einmal wird alles anders. Das Licht, die Farben, die Temperatur. Das kleine untervermietete Zimmer ist jetzt auf einmal dunkel, das neongrüne Licht ist verschwunden und mit ihm auch seine Wärme, die ich erst jetzt, nachträglich, da sie dahin ist, empfinden kann. Bernds untervermietetes Zimmer ist zwar nicht vollkommen dunkel geworden, vielmehr hat sich ein Farbfilm in einen Schwarzweißfilm verwandelt. Es riecht nach Kälte und es gibt auch einen anderen schwereren Geruch, ähnlich dem Geruch vieler ausgeblasener Kerzen. Jetzt merke ich, daß niemand unter mir liegt. Mein Körper hat den Körper der drallen Sybille einen kurzen Augenblick lang berührt. Ihre Haut brennt noch auf meinem Schwanz und meinen Oberschenkeln. Nicht, daß die Sybillenhaut heiß gewesen wäre - sie ist heiß und kalt zugleich gewesen, wie eine Meeresbrise, die Luftströme mit verschiedenen Temperaturen heranschafft. Aber die zarte und feste Oberfläche und der eigenartige Duft ihrer Haut hat sich meiner Haut so heftig mitgeteilt, daß ich jetzt brenne.

Unter mir liegt die kühle, glatte und rauhe Oberfläche des Deckels des alten Folianten. Ich liege mit meinem steifen Schwanz auf dem alten Buch, als ob es das selbstverständlichste wäre in Bernds untervermietetem Zimmer auf einen alten Folianten zu liegen. So selbstverständlich wie Hand in Hand mit der Lisa zu Bernds Silvetserparty zu kommen, mich, ohne den Bernd zu fragen mit ihr in sein Schlafzimmer zu legen, mich spätnachts in Bernds untervermietetes Zimmer zu schleichen, dort die dralle mir fremde Sybille vorzufinden, das Zimmer in hellgrünes Licht getaucht zu sehen, das nicht von dieser Welt ist, die Sybille mit mir sprechen zu hören mit einer Stimme, die nicht ihre Stimme ist, anzunehmen, daß die Sybille, die nicht aussieht wie sie selbst, sondern wie die Sybille von früher, mir ihren Schoß öffnet, mich auf ihre nackten Arsch zu legen, zu merken. daß sie nicht mehr da ist, wie wenn sie nie dagewesen wäre, auf einen alten Folianten zu liegen, das davor unter dem Schoß der drallen Sybille gelegen ist, mit steifem Schwanz - als ob es das selbstverständlichste wäre.

Ich bin es gewohnt, jedes Buch, das mir unterkommt, egal ob mich der Titel interessiert oder nicht, und die meisten Titel interessieren mich nicht, in die Hand zu nehmen und aufmerksam durchzublättern. Jetzt aber liege ich, wie seit Stunden auf dem altehrwürdigen Buch, wie wenn ich es bebrüten wollte, als ob es für mich nie einen anderen Umgang mit Büchern gegeben hätte, als den, auf ihnen zu liegen. Das Buch mag, anders als das hellgrüne Licht von dieser Welt sein, aber aus Bernds Bücherbeständen stammt es ganz sicher nicht. Ich hatte über die Jahre sämtliche von Bernds Büchern meiner Angewohnheit gemäß in der Hand und aufmerksam durchgeblättert, wenngleich mich die meisten der insgesamt ohnehin wenigen Bücher des Bernd nicht interessierten. Die allermeisten von Bernds Büchern sind Reisebücher, Sportbücher und Ratgeber in Liebes- und Partnerschaftsdingen, weil der Bernd nach der Scheidung von der Dietlinde auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage war, warum seine Ehe gescheitert war, aber auch nach einer Frau, um mit ihr eine Familie zu gründen.

Mein Schwanz ist immer noch steif, obwohl das dicke, altehrwürdige Buch weder rund, noch warm ist, noch weich, noch zwischen seinen Buchdeckeln Vertiefungen oder Hohlräume hat. Im Unterschied zur verschwundenen drallen Sybille öffnet es sich mir auch nicht, vielmehr bleibt es abgeschlossen und bietet meinem steifen Schwanz nichts als die kühle, rauhe und glatte Oberfläche eines alten Buchdeckels.

Draußen dämmert es schon. Immer noch erregt mich das dicke, altehrwürdige Buch. Oder ist es die Spur der Körperhaut der Sybille, die sich auf der Haut meines Schwanzes und meiner Oberschenkel eingebrannt hat? Nein, die Körperhaut der Sybille spüre ich lange nicht mehr, weder auf meiner Schwanz- noch auf meiner Oberschenkelhaut. Das einzige was ich spüre und was nicht aufhört, mich zu erregen, ist der kühle, rauhe und glatte Deckel des dicken, altehrwürdigen Buches. Ich frage mich, ob ich nicht wissen will, wie es denn heißt und was in ihm geschrieben steht und kann in mir keine Neugier für den Inhalt des dicken, altehrwürdigen Buches ausmachen, bloß das anhaltende Begehren seiner Oberfläche.
Ich wundere mich, daß die Begierde nach dem dicken, alten Folianten, sich gleichbleibt und nicht nach mehr verlangt. Zum Beispiel habe ich nicht das geringste Verlangen, in den Leib des altehrwürdigen Buches einzudringen, obwohl es ein leichtes wäre, es aufzuschlagen und meinen Schwanz auf das aufgeschlagene Buch zu legen. Wenn sich die aufgeschlagene Stelle etwa in der Mitte des Buches befände, wären die aufgeschlagenen Seiten die oberste Schicht einer Haut, die sich über zwei dralle Rundungen spannen würde. Aber, nichts, keine Macht dieser Welt, kann mich dazu bewegen, aufzustehen, um meinen Schwanz in das Innere des altehrwürdigen Buches einzutauchen, weil ich mich von der kühlen, rauhen und glatten Oberfläche des Deckels keine Sekunde zu trennen vermag.

3

An der Ungeduld in Lisas Stimme merke ich, daß sie schon länger auf mich einredet. Die Lisa sitzt im Schneidersitz neben meinem Kopf auf dem Futon-Bett in Bernds untervermietetem Zimmer und schaut auf das Fenster zum großen Innenhof mit den Platanen.
„Warum, hast Du hier geschlafen und nicht neben mir?“ Die Lisa versucht in den Tadel in ihrer Stimme etwas Verspieltes hineinzulegen.
„Ich ... habe...ich wollte ... ich konnte nicht einschlafen ...ich habe ein Buch gesucht ... zum ...“
„Zum drauflegen?“
„Ich ... konnte einfach nicht einschlafen.“
„Der Bernd hat keine interessanten Bücher, bloß Reisebücher und Liebesratgeber.“
Ich spüre meinen Schwanz nicht mehr. Er ist völlig in sich zusammengesunken.
„Ich habe auch nichts gefunden, was mich interessiert hätte.“
„Und was ist das?“
Mein Schwanz, obwohl er völlig in sich zusammengesackt ist, spürt, daß die Lisa mit einem Finger ein paar Mal auf den dicken Folianten tippt. Dann zieht sie ihn mir weg.
„Österreichischer Straßenatlas 1975“ verkündet sie laut. Ich richte mich auf. Im Schneidersitz sitze ich der Lisa gegenüber, die schon die längste Zeit im Schneidersitz neben meinem Kopf gesessen und zum Hoffenster geschaut haben muß. Das Buch, das sie in der Hand hält, ist nicht der dicke, alte Foliant, obwohl kein Zweifel bestehen kann, daß sie ihn gerade unter meinem in sich zusammengesackten Schwanz weggezogen hat. Die Lisa hält ein gelbes verglichen mit dem dicken, altehrwürdigen Buch viel dünneres Buch mit einem Plastikeinband in der Hand. Ich reiße der Lisa das Buch aus der Hand. Es ist das Österreichische Straßenatlas von 1975. Ich schlage den Atlanten auf, gemäß meiner Angewohnheit, jedes Buch, das in meine Hand kommt, aufzuschlagen und zu überfliegen. In der Mitte des Straßenatlanten liegt ein vergilbtes Zeitungsblatt. Es ist ein Blatt des Völkischen Beobachters aus dem Jahre 1942. Links oben steht in schwarzen Lettern :
„Wegelagerer des Krieges“.
Es ist der Titel einer Bildreportage über den Partisanenkrieg auf der Halbinsel Krim. Ich überfliege die Bild-Untertitel. Immer wieder kommen die Worte „Banditen“ und „Untermenschentum“ vor. Ganz unten zeigt eine Karikatur zwei Kampfpiloten der Wehrmacht, die auf einer tropischen Insel lässig an ihrem Kampfflugzeug lehnen und zwei dralle exotische Mädchen beobachten. Die Brüste und die Hüften der beiden exotischen Mädchen werden von exotischen Blättern bedeckt. Der eine Pilot auf der Karikatur sagt zum anderen: „Im Herbst, wenn die Blätter fallen, komme ich wieder.“

„Auf dem Buch bist Du gelegen“, sagt die Lisa. Es ist nicht klar, ob sie mich was fragen oder etwas feststellen will. Sie sagt „Buch“ obwohl ein Straßenatlas kein Buch ist, als ob sie wüßte, daß ich in Wirklichkeit auf dem dicken, alten Folianten gelegen bin.
„ Ich habe mich ... selbst befriedigt“, sage ich und senke den Kopf so tief es geht. Über den mittlerweile vollständig zusammengesackten Schwanz halte ich meine beiden Hände, obwohl um ihn zu bedecken eine halbe völlig ausreichen würde. Als wir verheiratet waren, habe ich oft masturbiert. Seitdem ich von der Lisa getrennt in der Schweiz lebe, masturbiere ich täglich. Niemals, als ich mit der Lisa verheiratet war, konnte ich ihr gestehen, daß ich masturbiere. Auch jetzt kann ich ihr nicht gestehen, daß ich, da ich in der Schweiz alleine lebe, täglich masturbiere. Die Lisa hat noch nie masturbiert. Sie schaut jetzt wieder zum Fenster hinaus, das zum Innenhof mit den Platanen aufgeht. Sie wird noch lange schweigen und nicht fragen, warum ich ausgerechnet den Österreichischen Straßenatlas aus dem Jahre 1975 zum masturbieren brauche.
4

Später im Café Museum werde ich mit dem Österreichischen Straßenatlas von 1975 auf dem Schoß da sitzen. Die Lisa wird im Klo sein. Der Österreichische Straßenatlas wird immer noch einen gelben Einband aus Plastik haben und dünner sein als das dicke, altehrwürdige Buch. Mir gegenüber wird ein Mädchen sitzen mit kurzen strohblonden Haaren, eine Touristin, der Sprache nach aus Osteuropa, neben ihrem Freund, einem hochgewachsener Mann mit dunklen gelockten Haaren und einer abgewetzten Lederjacke. Beide werden sich die ganze Zeit über dem Reiseführer und einen Wiener Stadtplan beugen und laut in einer slawischen Sprache diskutieren. Die junge blonde Touristin wird weder besonders hübsch noch besonders abstoßend sein. Sie wird eine Stupsnase haben und ein etwas zu langes Kinn. Sie wird ein paar Mal aufschauen und in meine Richtung blicken. Auch ich werde immer wieder vom Österreichischen Straßenatlas aufblicken und zu ihr schauen. Ich werde nicht wissen, ob ich sie anschaue, weil sie mir gefällt, oder weil mich ihr Interesse an mir interessiert.
Die Lisa wird sich wie immer viel zu lange am Klo aufhalten. Ich werde an das Mödlinger Gymnasium denken. Immer wenn einer während der Stunde aufs Klo gegangen war, hatte ihn der Zach, der Sohn des Unfallchirurgen, sobald er wieder zurück war, gefragt, ob es geschmeckt hatte.

Auch nachdem die Lisa vom Klo zurückgekommen sein wird, werde ich fortfahren in kurzen Abständen die strohblonde Osteuropäerin anzuschauen.
Im Österreichischen Straßenatlas von 1975 wird die ganze Zeit lang immer die selbe Stelle aufgeschlagen sein. Am rechten unteren Rand der ungeraden Seite wird ein Miniaturstadtplan von Graz zu sehen sein. Der Grazer Schloßberg wird wie ein braunes Muttermal aus dem Miniaturstadtplan aufragen. Ich werde abwechselnd das braune Muttermal im Straßenatlas und die Stupsnase der Osteuropäerin anschauen. Die Lisa wird die Salzburger Nachrichten lesen. Einmal werde ich die Lisa von der Seite her anschauen und merken, daß sie die Salzburger Nachrichten gar nicht lesen wird. Sie wird bloß auf die Salzburger Nachrichten auf ihrem Schoß hinunterstarren. Es wird mir einfallen, daß, als die Lisa und ich uns gerade einmal ein paar Tage gekannt hatten, wir einmal stundenlang im Wiener Cafe´ Eiles nebeneinander gesessen sind. Die Lisa hatte sich Illustrierte geholt. Ich hatte den ersten Band von Fenichels „Psychoanalytische Neurosenlehre“ zur Hand gehabt. Stundenlang hatte die Lisa die Illustrierten lesend geschwiegen und ich hatte gemerkt, daß ich nichts sagen mußte. Eine Woche später hatte ich der Lisa einen Heiratsantrag gemacht. Der Mutter hatte ich erzählt, daß ich die Lisa heiraten würde, weil sie stundenlang neben einem sitzen konnte, Illustrierten lesend, ohne daß man mit ihr reden müßte. Die Frauen, die ich vor der Lisa gehabt hatte, hatte ich der Mutter erzählt, wären mit der Lisa verglichen Hysterikerinnen gewesen. Ständig wären die Frauen, die ich vor der Lisa gehabt hatte, in Bewegung gewesen, ständig hätten sie mit mir reden wollen, ständig wären sie unzufrieden, fahrig und fordernd gewesen.
Ich werde, während ich abwechselnd die Lisa und das braune Muttermal im Miniaturstadtplan des Österreichischen Straßenatlas von 1975 anschauen werde, an die Hochzeitsfeier im Grazer Schloßberg-Restaurant mit den hundert Gästen denken. Die Osteuropäerin wird zusammen mit ihrem hochgewachsenen Begleiter das Cafe´ Museum verlassen haben, ohne beim Weggehen zu mir zurückzuschauen, was meine Vermutung bestätigen wird, daß sie sich nur für mein Interesse an ihr interessiert gehabt haben wird und nicht für mich. Plötzlich wird mir schwer ums Herz werden. Ich werde merken, daß mir bislang noch nie schwer ums Herz geworden ist in meinem ganzen Leben noch nicht und daß ich daher gar nicht gewußt haben werde, wie es ist, wenn einem schwer ums Herz ist. Die Sybille wird mir in den Sinn kommen und im Geiste werde ich nach Worten suchen, um mit der Lisa über die Sybille reden zu können, aber die Lisa wird mir zuvorkommen. Die Dralle wird sie sagen, hatte es ganz schön auf Dich abgesehen gehabt. Ich werde sagen, daß mich die Lisa zum Tanz aufgefordert hatte, nachdem die Lisa aus dem Wohnzimmer gegangen war. Ich werde an die heftige, ruckartige Bewegung denken, mit der mich die Sybille hochgezogen hatte. Das heftige, ruckartige Hochziehen wird mehrmals hintereinander in meinem Kopf stattfinden und jedesmal so intensiv, daß ich mein Kreuz durchdrücken und meinen Hintern ruckartig nach vor bewegen werde, als ob mich jemand unsichtbarer im Wiener Cafe´ Museum an die Hand nehmen und mit einer heftigen, ruckartigen Bewegung aufrichten wollte

Die Lisa, die nichts von meinem Besuch spätnachts in Bernds untervermietetem
Zimmer gemerkt haben wird, wird neben mir im Wiener Café Museum sitzend zu weinen beginnen. „Ach“, wird die Lisa sagen und „Scheiße“. Dann wird sie aus ihrer großen schwarzen Handtasche ein Taschentuch herausziehen (Als ich mit der Lisa verheiratet war, habe ich diese Handtasche immer „Oma-Tasche“ genannt, so wie ich alle Handtaschen der Lisa, die alle groß und dunkel waren, immer „Oma-Taschen“ genannt habe im Unterschied zu den Taschen der Sybille, der früheren Sybille, die immer Mädchentaschen waren, klein, hell und manchmal grell).
„Vermißt Du nie ...“, wird die Lisa sagen und dann wieder „Vermißt Du nie ... “. Dann erst wird sie richtig in Tränen ausbrechen und in meinem Geist wird das Pipeline-Höschen in der Arschspalte der drallen Sybille auftauchen. „Ja doch ...“, werde ich sagen, obwohl die Lisa noch keinen Satz fertig gesprochen haben wird und nach ihrer Hand greifen., die sie zwischen ihren Oberschenkeln eingeklemmt halten wird. Während ich „Ja doch“ sage wird der dralle Arsch der Sybille in meinem Geist langsam aufgeblasen, so daß die Falten zwischen ihren Oberschenkeln und ihren Arschbacken langsam verschwinden werden. Der dralle, aufgeblasene Arsch der Sybille, der aufgeblasen sein wird wie die Brüste einer aufblasbaren Sexpuppe, wird mich maßlos stören. Statt mich mit dem aufgeblasenen Sexpuppen-Arsch der Sybille abzugeben, werde ich mich lieber um die Lisa kümmern wollen. Aber ich werde beim besten Willen den Sybillen-Arsch nicht wegkriegen können. Wie Schmeißfliegen an einem Haufen Scheiße wird sich das Bild des aufgeblasenen Sybillen-Arsches an meinem Geist festkrallen und nicht von ihm lassen wollen. Ich werde zuerst ganz langsam, damit es niemand im Café Museum merken kann, meinen Kopf zu schütteln beginnen und dann schneller und schneller. Mittlerweile wird die Lisa leise vor sich hinschluchzen. Der aufgeblasene Sybillen-Arsch wird nicht mehr nur in meinem Geist, sondern auch vor meiner Nase herumtanzen und wird sich über meine Lippen stülpen, so daß ich weder werde atmen noch sprechen können. Weil ich die Lisa, die fortfahren wird vor sich hinzuschluchzen nicht werde mit Worten trösten können, werde ich ihre zwischen ihren Oberschenkeln eingeklemmte Hand zu streicheln versuchen.
Plötzlich werde ich wild, einem mächtigen Zwang folgend, zuerst mit der freien anderen Hand, dann aber auch mit der Hand, die gerade versucht haben wird, die eingeklemmte Hand der Lisa zu streicheln, auf den drallen aufgeblasenen Arsch der Sybille, der mittlerweile zu einem monströsen Organ angeschwollen sein wird, einzuschlagen versuchen. Immer wilder und wütender werde ich mit beiden Händen um mich schlagen, um den monströsen angeschwollenen Arsch zu vertreiben, der sich über mein Gesicht gestülpt haben wird, und dabei mit der einen Hand in Wirklichkeit auf Lisas Oberschenkeln und Lisas Hand einschlagen, die ich gerade habe streicheln wollen und mit der anderen immer heftiger auf mein Gesicht.
Wie man böse Geister lautstark mit Rasseln und Tschinellen zu vertreiben versucht, werde ich am Morgen nach Bernds Silvesternachtparty im Wiener Café Museum in kurzen Abständen laute, schrille Schreie ausstoßen, während ich mit der einen Hand auf Lisas Oberschenkel und mit der anderen auf mein Gesicht einschlagen werde.


Sonntag, 30. Dezember 2007

empfohlen ...

... wird das feine Literatur-Weblog der Autorin maison. Sie schreibt, sie leide an der Zwangsvorstellung, Architektin zu sein, daher wohl das Pseudonym.
Schon allein des großartig-schlichten Designs und des Weblog-Namens privatliteratur wegen eine Web-Reise wert.
http://privatliteratur.twoday.net/

Samstag, 29. Dezember 2007

Demonstration, Revolution und eine Verheißung im Cafè Paradies


Mist und kein Ende ...

Mein Ärger, daß ich den Roman wohl doch nicht werde als Fortsetzungsroman hier veröffentlichen können, weil ja sonst die Verlage usw. ... hält an.

Kleines Trostpflaster: Ein drittes Romanfragment, das eh auch schon veröffentlicht ist (in der Literaturzeitschift kolik Nr. 36), habe ich noch im Köcher. Es handelt sich um einen von mehreren Briefen, den Arman Kalami, altlinker Teheraner Berufsrevolutionär und der zweite Ich-Erzähler des Romans, an "das Zentralkomitee" schreibt.

Um den Zusammenhang mit den beiden in diesem blog bereits veröffentlichten Romanfragmenten (siehe die posts Nr.1 und 2 ganz unten) wenigstens anzudeuten: "Der Dreißigjährige im Rollstuhl mit Krawatte und Anzug" ist natürlich niemand anderer als Danusch, der Ketzer-Onkel des ersten Ich-Erzählers Arasch Bastani ...

Aus dem Roman "Ungläubig" (Arbeitstitel)


Arman Kalami an das Zentralkomitee

Wertes Zentralkomitee,

Seit Jahren ist in Kreisen unserer Partei meine Rolle in der Teheraner Revolution Anlaß für Spekulationen und haben diese mit der Zeit den Charakter von Diffamierungen angenommen. Neulich rief ein Student an der Technik in Graz - ein junger Genosse aus Teheran - meiner sechzehnjährigen Tochter über die Straße hin zu, Wir wissen, daß Dein Vater an Gott glaubt. Sofort, wertes Zentralkomitee, wechselte meine Tochter die Straßenseite und streckte den Jungen wortlos nieder, sie ist Trägerin eines Tae-Kwan-Do-Gürtels und hat der Genosse den Vorfall bei Gericht angezeigt.

Im folgenden erlaube ich mir, wertes Zentralkomitee, von den Vorkommnissen zu berichten - die unmittelbar nach der sogenannten Revolution - für mein Fortgehen aus Teheran von Belang waren und beabsichtige ich hiermit nicht bloß, die Zweifel über meine Loyalität der Partei gegenüber zu zerstreuen.
Ich werde Ihnen nämlich in weiterer Folge eine Person präsentieren, in die ich - was die wahre, noch bevorstehende Revolution anbelangt - die größten Hoffnungen setze.

Im Mai 1978, wertes Zentralkomitee, fand, wie Ihnen bekannt, in Teheran eine Demonstration der Mediengewerkschaften statt und marschierten Tausende über den Perdusi-Boulevard zum Kennedyplatz und marschierte ich als führendes Mitglied der Journalistengewerkschaft in der vordersten Reihe. Es war unweit der Kreuzung Rooseveltstraße-Perdusi-Boulevard, daß mir eine junge Frau auffiel, die aus einem Supermarkt trat und einen Rollstuhl schob. Die Frau war hübsch, wertes Zentralkomitee, und modisch gekleidet, im Rollstuhl saß ein Dreißigjähriger mit Krawatte und Anzug. Auf der Schulter des Dreißigjährigen wiederum saß ein Vogel. Wertes ZK, ich kenne mich bei Vögeln nicht aus, habe aber später erfahren, daß es eine Amsel war. Der Mann hielt etwas längliches zwischen den Lippen, das wohl eine Salzstange war, und der Vogel, also die Amsel, knabberte daran. Ich und die anderen Genossen DemonstrantInnen skandierten Parolen - gegen die Klassengesellschaft, für die Pressefreiheit und gegen den Glauben wie etwa:


Freiheit & Brot
oder
Gott ist tot
oder
Gott hat es nie gegeben

Auf einmal sprang der Mann im Rollstuhl auf, riß die Arme in die Höhe und begann einen seltsamen Tanz aufzuführen, sofort riß auch die Frau die Arme in die Höhe und begann den selben Tanz aufzuführen, die beiden - die GenossInnen verzeihen meine blumige Sprache - sahen wie zwei Marionetten in den Händen eines bekifften Puppenspielers aus, und skandierten sie, nachdem sie sich warm getanzt hatten:

High sein
Frei sein
Gott muß dabei sein


Wertes Zentralkomitee, eigentlich skandierten sie nicht, sie sangen. Etwa so wie Klagepriester Klagelieder singen und singend wiederholten sie die Parole ich weiß nicht wie oft.
Der Vogel, also die Amsel, flatterte im Rhythmus der Parole, schnellte, wenn sie Gott sangen, in die Höhe, und noch bevor sie mit Gott fertig waren, war er wieder auf der Schulter des Dreißigjährigen. Auf einmal waren überall Männer in blauen Sakkos und weißen Hemden mit offenen Krägen, Bärtige, die mir exotisch vorkamen, damals, wertes ZK, gehörten die Trupps des Göttlichen Heilands - im Volksmund Die Blauen genannt - noch nicht zum Straßenbild Teherans. Die Männer waren mit Ketten, Knüppeln und diversen Küchengeräten bewaffnet - Fleischhämmer, Gußeisenpfannen, Stabmixer. Wie ein Schwarm Heuschrecken flogen sie ein, schlugen wie Automaten um sich, schienen vom Himmel zu fallen oder aus Fenstern zu stürzen. Jemand rannte mich um, wertes ZK, ich wollte mich aufrichten, als ein Blauer auf mich zugerannt kam, er hatte einen Fleischhammer in der Hand, ich wurde panisch, griff mir eine Wade des Blauen und biß zu. Mein Biß schien ihm aber nichts anzuhaben, er schwenkte vielmehr den Fleischhammer wie ein Recke im Buch der Elefanten und hätte er zum tödlichen Schlag ausgeholt, plötzlich fiel er aber um, ich schwöre es, und war tot.
Wertes Zentralkomitee, ich stand auf und statt mich um den Toten zu kümmern suchte mein Blick nach der Frau, dem Mann und der Amsel. Die beiden - besser die drei - hatten auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. Nicht nur, daß mich die Schöne, ich gestehe es, außerordentlich anzog, das ganze Ensemble zog mich außerordentlich an und hätte ich damals nicht sagen können, warum. Die Frau und der Mann standen immer noch beim Supermarkt-Ausgang, die Amsel war nicht mehr zu sehen, der Mann hatte beide Arme von sich gestreckt, wie ein Schlafwandler, die Frau stand hinter ihm und massierte ihm seine Schläfen. Heute, wertes Zentralkomitee, wundert es mich, daß die Blauen die beiden verschonten, im speziellen die Frau, die Blauen werden ja bei aufreizend gekleideten Frauen rabiat - und aufreizend, werte GenossInnen, war diese Frau.
Der Dreißigjährige blickte verstört, als hätte man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen, die Frau beendete die Massage, packte ihn an den Schultern und schob ihn zum Rollstuhl, er setzte sich ohne Widerstand, bald schien er wieder bei sich und entspannt und hatte ich plötzlich den Eindruck, er beobachte mich, aber ich war mir nicht sicher. Um den Toten herum hatte sich ein Cordon Blauer gebildet, der ihn wiederzubeleben versuchte und gestikulierte. Der Dreißigjährige im Rollstuhl richtete sich auf während die Schöne, die hinter ihm stand, in ihrer Handtasche kramte und war ich jetzt sicher, daß er mich ansah. Auf einmal, wertes Zentralkomitee, hörte ich ein Brüllen, das von hinten und oben kam:

Begirid madar-sago!
Haltet den Hurensohn!


Begirid Djani ro!
Haltet den Mörder!


Ich drehte mich um. Aus dem Fenster eines Hochhauses schaute und brüllte ein Blauer mit silbernem Haar das o.g. auf Süd-Teheranisch, er brüllte wie ein Tobsüchtiger und hätte ich die Rettung verständigt, daß er in die Heilanstalt kommt, wäre nicht Revolution gewesen, wertes Zentralkomitee, in der Revolution nämlich gelten andere Regeln, in der Politik wie im Alltag, verzeihen Sie die Belehrung.
Die Blauen um den Toten herum wußten mit dem Zuruf aus dem Hochhaus nichts anzufangen, und schauten sie ratlos nach oben.

Der mit der Glatze, brüllte der Alte,
der ... die Brillenschlange ...
dort, mit der Glatze!


Wertes Zentralkomitee, ich begriff, daß ich gemeint war, ich war für den Blauen im Fenster der Mörder, jedoch rettete mich meine Glatze. Damals nämlich war meine Glatze wesentlich kleiner als heute und konnten die auf der Straße befindlichen Blauen meine Glatze nicht ohne weiteres als solche erkennen im Unterschied zu dem Alten im Hochhaus.
Der Dreißigjährige im Rollstuhl hatte inzwischen begonnen, mich heftig zu sich zu winken und folgte ich instinktiv seinem Winken und lief ich zu dem seltsamen Paar. Einmal blickte ich mich um, aber es folgte mir niemand.
Bayad farar konid, sagte der Dreißigjährige, Sie müssen weg hier. Die Schöne fand, wonach sie in ihrer Handtasche gekramt hatte und reichte sie dem Dreißigjährigen eine Handvoll Tabletten, die er umgehend schluckte. Kommen Sie, sagte die Schöne und nahm meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los, zu meinem großen Bedauern, und bat sie mich, den Rollstuhl mit dem Dreißigjährigen zu schieben und ihr zu folgen. Nicht zu schnell, flüsterte sie, das fällt auf, und sprach sie mit einem fremden Akzent, obwohl sie aussah wie eine Teheranerin. Ich kannte die beiden nicht, wertes Zentralkomitee, und gab es für mich überhaupt keinen Grund, ihnen zu trauen, ich weiß nicht, was in mich gefahren war, daß ich Ihnen dennoch folgte.
Laßt ihn nicht entwischen, brüllte der Alte im Hochhaus, die Schöne schien den Straßenkampf zu ignorieren und seelenruhig auf dem Trottoir zu flanieren, und mußte ich tun als sei auch ich ein Flaneur. Wir befanden uns auf dem Perdusi-Boulevard, die Platanen waren damals schon hoch, und frage ich mich, wie hoch sie heute sein müßten (aber kann es sein, daß Luftverschmutzung die Platanen vernichtet?). Wir bogen in die Rooseveltstraße, wo es keine Demonstranten mehr gab, wir müssen ins Paradies, sagte der Dreißigjährige, Sie kennen das Paradies?, fragte die Schöne. Ich blickte mich um, und schienen zwei Blaue uns unauffällig zu folgen. Ja, sagte ich, vom Namen her, aber ich war noch nie dort.
Das Paradies, wertes ZK, war ein von PatientInnen der Psychiatrie geführtes Café in Teheran-Mitte, vergleichbar dem Gourmetrestauarnt Wahnsinn & Gesellschaft in Teheran-Nord. Es galt als schick, solche Cafés zu besuchen, namentlich in der Bohème. Wertes ZK, ich verabscheue die Bohème und habe ich niemals Romane gelesen. Die Typen von der Bohème interessiert an der Revolution doch nur die Romantik und haben sich in Teheran Teile der sogenannten Bohème auf Seiten der Religiösen geschlagen, denn besser als jede wahre Revolution befriedigt die Pseudo-Revolution den Wunsch der Bohème nach Romantik.
Wir bogen in eine Seitenstraße der Rooseveltstraße, ihr Name liegt mir auf der Zunge. Hier, sagte der Dreißigjährige, ist das Paradies, und sprang er aus dem Rollstuhl. Wir standen vor einer Türe aus schwarzem Glas, auf der in futuristischer Schrift Café Paradies stand. Der Dreißigjährige stieß die Glastüre auf, wie man eine Saloon-Türe aufstößt. In den hohen, hellen Räumlichkeiten des Cafés war eine große Menschenmenge, die meisten waren modisch bekleidet und hätte ich nicht sagen können, wer davon ein Fall für die Psychiatrie war. Später erfuhr ich, daß psychiatrische Fälle Das Paradies überhaupt nicht frequentierten, hingegen rekrutierte sich das Personal zur Gänze aus BewohnerInnen der Zacharias-Anstalt, benannt nach dem Arzt Zacharias Rases und bekannt für ihren, wie soll ich sagen, futuristischen Umgang mit psychiatrischen Fällen.
Als wir eintraten ging ein Raunen durch die Menge, dann wurde es still und schienen sich alle Blicke auf den Dreißigjährigen zu richten, der sich zwischen Tischen und Menschen ans andere Ende des Cafés manövrierte und sich hinter die Theke stellte.
Kommen Sie, sagte die Schöne. Sie nahm meine Hand und führte mich zu einem Tisch, auf dem ein Schild mit der Aufschrift Reserviert stand. Es ist für uns reserviert, sagte sie, mit einem Lächeln, daß in meinem Herzen ein Zuckerhut schmolz - wie man früher in Teheran sagte - und bin ich wieder blumig geworden, verzeihen Sie, wertes ZK.
Ich arbeite hier, sagte die Schöne. Wir setzten uns. Ich bin das Aufsichtsorgan für das Café-Personal.
Sie sind - Nervenärztin? Ich war überrascht. Mit ihrem Jeans-Minirock, wertes ZK, ihrer Jeansjacke und ihrem Sweat-Shirt, das mit Zeitungsausschnitten bedruckt war, schien sie keinesfalls eine Ärztin zu sein und schätzte ich sie auf Ende zwanzig.
Sozialarbeiterin, sagte sie, psychiatrische Sozialarbeiterin - und wieder das Zuckerhutlächeln. Ich wollte fragen, ob sie aus Teheran sei, da hörte ich eine schrille Frauenstimme:
Herr Bastani, darf heute ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen? Ich streckte den Hals und konnte ich die Quelle der Frauenstimme als eine Dame mittleren Alters identifizieren, der Kleidung nach großbürgerlich, und saß sie an einem Tisch nahe der Theke. Mit Bastani war offenbar der Dreißigjährige gemeint, der die Hände auf die Theke gestüzt, mit einer seltsamen Würde in die Menge blickte. Die Dame stand auf; und mit ihr ein Junge, den ich auf ca. Achtzehn schätzte. Zusammen traten sie an die Theke. Der Junge hatte halblanges Haar und eine Lederjacke an und schien er ein Rocker zu sein.
Ich mache mir solche Sorgen um meinen Sohn, sagte die Dame und zeigte sie auf den Rocker.
Was hat er denn?, fragte der Dreißigjährige.
Wie soll ich sagen, sagte die Großbürgerin, er hat sich komplett verändert. Vor den Unruhen war er ein braver Schüler und trieb Sport. Na ja, ein braver Schüler war er nie, Sie kann ich nicht anlügen, Herr Bastani, aber dumm ist er nicht, er hatte immer den Fußball im Kopf, nie Mädchen, und dieses chinesische – Kung-Fu. Er ist dann täglich zu den Demos, wir hatten Angst um ihn, aber so ist die Jugend. Eines Tages kommt er nach Hause und sagt: Ich will nicht mehr in die Schule und zu den Demos auch nicht. Warum? Ich muß mich vorbereiten, sagt er, alle müssen sich vorbereiten, auch Ihr - sagt er zu uns -, denn der Verheißene kommt.
In diesem Moment, wertes Zentralkomitee, bewegte der Dreißigjährige den Kopf. Es war eine minmale Bewegung und hatte ich aber den Eindruck, daß die Menschenmenge auf diese Bewegung hin verstummte - während nämlich die Dame gesprochen hatte, hatte die Menschenmenge ununterbrochen getuschelt, jetzt wurde es still. Plötzlich, wertes ZK, war die Amsel wieder da, und saß sie wieder auf der Schulter des Dreißigjährigen und mußte ich abgelenkt gewesen sein, daß ich ihr Hineinfliegen ins Café nicht bemerkt hatte.
Stimmt es, was Deine Mama erzählt?, fragte der Dreißigjährige den Rocker. Er spricht nicht, sagte die Mutter, Tag und Nacht sitzt er auf der Dachterasse und starrt in die Sonne. Am Anfang hat er hin und wieder mit uns gesprochen, daß der Verheißene kommt wie ein Dieb in der Nacht, und die sein Kommen versäumen, wird man lebendig begraben ... die Dame brach in Tränen aus, wertes Zentralkomitee, und schluchzte sie hemmungslos, während der Rocker stumm vor sich hin starrte und hatte ich, ehrlich gesagt, Mitleid mit ihr, auch wenn sie Angehörige der Großbourgeouisie war. Bitte glauben Sie mir, schluchzte die Dame, niemand ist bei uns religiös, mein Mann ist Zoologe und Darwinist, wir haben den Kindern immer von Darwin erzählt und von Marx.
Wertes ZK, daß eine Bourgeouse ihren Kindern von Marx erzählt, überraschte mich einigermaßen und kannte ich damals die Strategie des Klassenfeindes noch nicht, Marx für sich zu vereinnahmen.
Haben wir falsch gehandelt?, schluchzte die Dame, Hätten wir ihm von Adam und Eva erzählen sollen statt von Freud?
Sie haben richtig gehandelt, sagte der Dreißigjährige und war ich schon wieder überrascht, weil ich den Dreißigjährigen aufgrund der o.g. Parole - High sein/Frei sein/Gott muß dabei sein - für religiös gehalten hatte, wenn auch nicht religiös im Sinne der Idioten, die heute in Teheran herrschen.
Gott ist tot, sagte der Dreißigjährige und wandte er sich an die Gesamtheit der Kaffeehaus-Besucher, Gott ist tot, was heißt, daß er immer schon tot war. Ich aber sage Euch - Gott funktioniert nur als Toter.
Die Dame schien sich inzwischen beruhigt zu haben und weinte nicht mehr.
Stimmt es, was Deine Mama erzählt?, fragte der Dreißigjährige den Rocker. Der Rocker blieb stumm und schaute er wie verschämt zu Boden. Schau, sagte der Dreißigjährige dem Rocker, schau, und streckte die Arme aus wie im Perdusi-Boulevard, nur, daß seine Handflächen jetzt nach oben zeigten.
Schau, sagte der Dreißigjährige, schau, der Rocker schüttelte den Kopf, wie um aufzuwachen und schaute er dem Dreißigjährigen in die Augen. Wen siehst Du, fragte der Dreißigjährige, wen siehst Du? Auf einmal, wertes Zentralkomtee, begann der Rocker zu schreien und schrie er als hätte er den Tod vor den Augen und traf mich sein Schreien ins Mark und fingen jetzt alle Kaffeehaus-Gäste zu schreien an, inklusive der Schönen, und schrie auf einmal auch ich, etwas derartiges hatte ich weder erlebt noch für möglich gehalten, ich wollte nicht schreien, jedoch mußte ich, wertes Zentralkomitee, es war schrecklich, der Rocker hielt die Hand vor den Augen und schrie: Bist Du es?, und ging in die Knie, irgendwann fiel mein Blick auf die Amsel, sie kam mir jetzt größer vor und hatte den Schnabel nach oben gerichtet und schien die Decke anzuschreien, sofern Amseln schreien können, wertes Zentralkomitee, ich kenne mich bei Vögeln nicht aus, wie gesagt, und glaubte ich plötzlich, das Schreien der Amsel sei der Grund für das Schreien der Menschen, und auch meines Schreiens, und wollte ich aufstehen und die Amsel totwürgen, damit eine Ruh ist, wie man in Graz sagt, aber das Schreien war schon zu Ende, und hörte auch ich auf zu schreien, aber es war keine Ruh. Jetzt war nämlich ein lautes Klirren zu hören und drangen, indem sie wie in einem Hollywood-Film Fensterscheiben zerschlugen, etliche Blaue in das Café Paradies und skandierten sie

Her mit dem Mörder!
Her mit dem Mörder!


als wären sie auf einer Demo. Ich wußte, daß mit dem Mörder ich gemeint war, blieb aber ruhig; die Schöne nahm meine Hand und drückte sie, ich fühlte mich wie ein Teenager, mit seinem Mädchen im Kino, die Café-Gäste waren aufgesprungen,

Gott ist groß!,

brüllte ein Blauer, die anderen Blauen stimmten mit ein und riefen sie abwechselnd:

Gott ist groß!
und
Her mit dem Mörder!
Her mit dem Mörder!


Einer von ihnen hielt eine Gußeisenpfanne in der Hand und forderte er mit hektischen Bewegungen seiner anderen Hand die Café-Gäste auf, in sein Gott-ist-groß miteinzustimmen, die Café-Gäste schauten alle auf den Dreißigjährigen, der wiederum auf die Großbürgerin und den Rocker einredete, die vor der Theke am Boden kauerten, was der Dreißigjährige sagte, hörte ich nicht, hingegen der Rocker laut Nein, Nein, schrie, während ihm seine Mama den Kopf streichelte. Auf einmal wechselte der Dreißigjährige die Farbe, und war er jetzt rot im Gesicht,

Gott ist tot!,

brüllte er und schlug er mit der Faust auf die Theke und begannen jetzt auch die Café-Gäste wie ein Mann Gott ist tot! zu brüllen und wurden die Gott-ist-tot!-Rufe lauter bis sie die Gott-ist-groß!-Rufe akustisch zermalmten, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, wertes ZK. Die Blauen hatten bis dahin nur Gegenstände zerstört, jedoch die Menschen verschont und verlieren sie jetzt jegliche Hemmung und beginnen sie auf die Gäste einzuschlagen. Der Blaue mit der Gußeisenpfanne schlägt sie einem Kellner auf den Kopf, einem schmächtigen Jungen, und geht dieser augenblicklich zu Boden. Ja Hallo, brüllte der Dreißigjährige und streckte die Arme wieder aus und zeigten seine Handflächen wie im Perdusi-Boulevard wieder nach unten. Die Schöne sprang auf, Herr Danusch, rief sie, bitte lassen Sie das, und wollte sie zum Dreißigjährigen, ich sprang ebenfalls auf, ich hatte Angst um die Schöne und hielt sie zurück, indem ich sie am Handgelenk packte.
Wertes ZK, die Ereignisse überschlagen sich jetzt. Die Café-Gäste fangen wieder zu schreien an und unterbrechen sie ihr Schreien nur um Gott-ist-tot zu brüllen. Die Blauen erstarren und stopfen sie sich ihre Ohren zu und müssen dabei ihre Waffen - Ketten, Knüppeln und Küchengeräte, wie gesagt - fallen lassen, und hätte also das Schreien allein schon gereicht, um die Blauen auszuschalten. Jetzt stürzen sich aber die Café-Gäste wie ein Mann auf die Glaubens-Idioten, packen sie an ihren Hälsen und würgen. Es braucht nicht lange, wertes ZK, und gibt es im ganzen Café keinen einzigen Blauen, der nicht gewürgt worden wäre.
Ich hielt die Schöne noch immer am Handgelenk fest und hatte sie gar nicht versucht, sich meinem Griff zu entwinden. Der Dreißigjährige hatte die Arme wieder fallen lassen und das Gesicht in die Hände begraben als weinte er. Die Schöne schien von einer Willenslähmung befallen, wie übrigens auch ich. Beide standen wir da und begann ich ihr Handgelenk mechanisch zu streicheln. Auch die Blauen schienen ganz willenlos, man würgte sie, aber sie wehrten sich nicht und wurden ihre Gesichter immer blauer, manche langsamer, manche schnell, ein paar fielen um und waren womöglich schon tot.
Wertes ZK, heute denke ich, es wäre nicht schade gewesen um sie. Aber damals kannte ich die religiösen Idioten noch nicht und waren sie Exoten für mich und fragte ich die Schöne, wo das Telefon sei, um die Rettung zu rufen. Keine Rettung, sagte die Schöne. Ihre Trance resp. Willenslähmung schien überwunden. Wir bringen ihn in die Zacharaias, sagte sie, gleich um die Ecke. Der Schönen, wertes ZK, war das Leben der Blauen also gänzlich egal, es ging ihr lediglich um den Dreißigjährigen, den sie Danusch nannte, und hatte sie einen Grund, diesen Danusch ohne Aufsehen in die nahegelegene Anstalt zu bringen, wo er, wie ich später erfuhr, in der Abteilung für Chronische wohnte.

Mir ging die Sorge der Schönen um den Dreißigjährigen auf die Nerven; es war nicht die übliche Sorge der Sozialarbeiterin um das Wohl des Klienten und schien sie mit dem Zustand des Dreißigjährigen in keinem Verhältnis zu stehen. Auch war ich, ich gestehe es, eifersüchtig auf ihn, und hat sich meine Eifersucht im Nachhinein als berechtigt erwiesen. Die Schöne machte sich von mir los und lief sie zu dem Dreißigjährigen, der noch hinter der Theke stand, ich ihr nach, und hielt er die Hände vor dem dem Gesicht, die Amsel war wieder verschwunden.
Es ist wieder passiert, sagte der Dreißigjährige.
Du hast doch, fragte die Schöne und begann sie ihm seine Schläfen zu massieren, Deine Tabletten geschluckt?
Habe ich, aber als der mit der Gußeisenpfanne den Parvis ... Parvis, brüllte er plötzlich und lief er in die Menschenmenge, offenbar auf der Suche nach dem schmächtigen Kellner, warte, rief meine Schöne und lief sie dem Dreißigjährigen nach und ich ihr. Die Gäste begannen den Blauen, die sie zu Boden gewürgt hatten, Erste Hilfe zu leisten. Die anderen Blauen (die noch nicht zu Boden Gegangenen) standen regungslos da, ich stolperte über jemanden und erkannte ich, wertes Zentralkomitee, in ihm den Alten vom Hochhaus, den mit dem silbernen Haar und ging ich sofort in die Knie, um Erste Hilfe zu leisten, in diesem Moment, ich schwöre es, riß er die Augen auf und stöhnte er Mörder! und statt ihm sofort in die Schnauze zu treten, daß eine Ruh ist, wie die Grazer sagen, lief ich in Panik auf die Straße hinaus.

Es regnete, und fiel mir, kaum daß ich draußen war, meine Schöne wieder ein und wollte ich zurück ins Café, da rannte ich in den Dreißigjährigen, den die Schöne im Begriff war, aus der Eingangstüre hinauszuschieben. Der Dreißigjährige war jetzt gelb im Gesicht und hatten sich schwarze Ringe unter seine geröteten Augen gebildet, sein Mund war offen, wie erstarrt während des Aussprechens eines Vokals. Helfen Sie mir, rief die Schöne, der Dreißigjährige hatte steife Glieder, die er kaum zu bewegen vermochte und wurde er mehr von der Schönen geschoben, als daß er selbst gegangen wäre.Ehrlich gesagt: Mir ging die Sorge der Schönen um den Dreißigjährigen auf die Nerven, es war ja gar nicht die gewöhnliche Sorge einer Sozialarbeiterin um das Wohl des Klienten und schien sie mit dem Zustand des Dreißigjährigen in keinem Verhältnis zu stehen. Auch war ich eifersüchtig auf den Dreißigjährigen, um ehrlich zu sein, und hat sich im Nachhinein meine Eifersucht als berechtigt erwiesen. Die Schöne machte sich von mir los und lief sie zu dem Dreißigjährigen, ich ihr nach, der Dreißigjährige stand noch immer hinter der Theke und hielt er die Hände vor dem Gesicht als würde er weinen. Die Amsel war übrigens schon wieder fort und fragte ich mich, ob ich sie mir bloß eingebildet hatte, die Schöne berührte den Dreißigjährigen an den Schultern. Es ist wieder passiert, sagte der Dreißigjährige, die Schöne begann seine Schultern zu massieren. Du hast doch ... Deine Tabletten geschluckt?
Klar, sagte er, habe ich, aber ... dann als der Typ mit der Gußeisenpfanne ... auf den Parvis ... Parvis, brüllte er auf einmal und lief er in die Menschenmenge hinein, wohl auf der Suche nach dem Kellner, den der Blaue mit der Gußeisenpfanne niedergestreckt hatte. Warten Sie, rief die Schöne und lief sie dem Dreißigjährigen nach (den sie seltsamerweise einmal siezte, dann wieder dutzte) und ich ihr. Da und dort hatten die Gäste begonnen den Blauen, die sie zu Boden gewürgt hatten, Erste Hilfe zu leisten, die anderen Blauen, die zwar gewürgt worden waren, aber nicht zu Boden gegangen, standen regungslos da, ihre Gesichter immer noch mehr oder weniger blau, und ebbte nach und nach das Schreien und Gott-ist-tot-Brüllen der Café-Gäste ab, ich stolperte über einen Blauen am Boden und erkannte in ihm den Alten vom Hochhaus, den mit dem silbernen Haar, ich kniete mich hin, um zu sehen, ob er noch lebte, in diesem Moment riß er die Augen auf, wertes ZK, ich schwöre es, und starrte mich an, als wäre ich der Tod in Person. Mörder!, sagte er mit erstickter Stimme, und sprang ich instinktiv auf und statt ihm, wertes Zentralkomitee, ins Gesicht zu treten, daß er, wie die Grazer hier sagen, eine Ruh gibt, lief ich davon.
Der Rollstuhl stand neben der Eingangstüre und jetzt erst kapierte ich, wertes ZK, den Sinn dieses Rollstuhls. Ich half der Schönen, den Dreißigjährigen im Rollstuhl zu plazieren, was uns nach großer Kraftanstrengung gelang, steif wie er war. Die Schöne erwies sich obwohl zierlich als stark und bat sie mich wieder den Rollstuhl zu schieben und ihr zu folgen.

Die Heil- und Sonder-Anstalt Zacharias lag tatsächlich nahe am Café Paradies. Neben der Pforte standen zwei ältere Herren, beide als psychiatrische Fälle erkennbar, in Mao-Anzügen und liefen sie auf den körperstarren Dreißigjährigen zu. Herr Bastani, riefen sie beide. Sie wirkten besorgt. Ich folgte der Schönen und schob den Rollstuhl mit dem Dreißigjährigen durch einen Park mit alten Platanen, es regnete, wertes Zentralkomitee, aber doch nicht so stark, daß Regenschirme resp. -mäntel notwendig gewesen wären. Entlang der Anstaltsmauer reihten sich bunt angestrichene Backsteinpavillons, wir erreichten ein Schwimmbad, hinter dem zwischen hohen Platanen das Hauptgebäude der Anstalt lag. Es hatte eine große Terasse und war sie meiner Meinung nach in den fünfziger Jahren gebaut. Im ganzen Areal war außer den beiden maoistischen Pförtnern niemand zu sehen, ich folgte der Schönen zu einer Seitentüre des Hauptgebäudes und betätigte sie eine Tastatur. Auf einem Bildschirm erschien das Gesicht einer Blonden. Hurra, sagte sie, Trallala, kommt rein, liebe Freunde - die Türe öffnete sich und traten wir ein. Ich war überrascht, daß wir statt eines Krankenhauses eine Halle betraten, die aussah wie der Kommandoraum des Raumschiff Enterprise, nur daß sie größer und gemütlicher war. Auf einem flauschigen Teppich standen mannshohe Sitzkissen, worin langhaarige Frauen resp. Männer lagen, zum Teil als psychiatrische Fälle erkennbar, zum Teil aber nicht. Sowohl der Teppich als auch die Sitzkissen waren in grellen, wie soll ich sagen, psychedelischen Farben gehalten, wie im Anstaltsareal die Backsteinpavillons. Eine Blonde mit Brille saß als einzige direkt auf dem Teppich, ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Frau Oberärztin, rief meine Schöne, Guten Tag. Die Oberärztin sprang auf, Elsa, sagte sie enthusiastisch, sie küßten sich auf die Wangen. Elsa, so schön Sie wiederzusehen. Die Schöne hieß also Elsa und konnte sie folglich nicht aus Teheran stammen. Sie zeigte auf mich, das ist der Herr ...

Kalami, sagte ich, Arman Kalami.
Herr Kalami, sagte die Schöne, war so überaus nett, uns herzubegleiten und vor der Revolution zu beschützen.
Auf einmal lachte die Oberärztin, wertes Zentralkomitee. Die Revolution ist ein Witz, sagte sie - und an mich gewandt: Kennen Sie Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten?
Ich verneinte. Das Gesicht der Oberärztin wurde ernst und wandte sie sich an die Schöne.
Gib ihm ein Akineton, sagte sie und zeigte dabei auf den körpersteifen Dreißigjährigen, bald ist er wieder entspannt.
Die Schöne entnahm ihrer Handtasche eine Tablette, die sie dem Dreißigjährigen auf die Lippen legte.
Setzt Euch, Ihr Lieben, sagte die Oberärztin zu mir und der Schönen, hinten sind noch Sitzkissen frei.
Wir setzten uns, wertes Zentralkomitee, ich und die Schöne, resp. legten wir uns jeder auf einen Kissen. Die Oberärztin setzte sich wieder auf den psychedelischen Teppich. Wir fahren fort, sagte sie. Heute werde ich Euch einen Schriftsteller vorstellen, der aus Teheran stammt, er jedoch lebt er in einer Stadt ... Ihr wißt ja vielleicht, ich war voriges Jahr in dieser Stadt namens Graz und habe die dortige Zentralanstalt für Geisteskranheiten besucht. Dort gibt es ein Künstlerkollektiv, wie bei uns, deren KünstlerInnen über die Grenzen der Nervenanstalt hinaus Ruhm und Anerkenung genießen. Einer von ihnen ist der besagte aus Teheran gebürtige Schriftsteller – die Oberärztin, wertes ZK, nannte einen Schriftsteller-Namen. Ich bin, wie Ihr wißt, sagte die Oberärztin, nicht nur Oberärztin, sondern, auch Filmemacherin. Ich hätte den Schriftsteller - sie nannte, wertes Zentralkomitee, wieder den Schriftsteller-Namen – gerne gefilmt, er wollte aber nicht. Es gelang mir aber, ihn während einer Lesung zu filmen, er merkte es nicht, so sehr war er in sein Lesen versunken. Auf dem Video, das ich Euch jetzt präsentiere, liest der Schriftsteller - die Oberärztin nannte wieder den Schriftsteller-Namen – Fragmente aus einem bis dato unvollendeten Roman. Da unser Schriftsteller aber das Teheranische nur mangelhaft spricht, schreibt er auf Deutsch und Elsa – die Oberärztin warf einen, wie soll ich sagen, liebevollen Blick auf die Schöne – und Elsa war so überaus nett, uns den Text ins Teheranische zu übersetzen, herzlichen Dank, und jetzt ist Armin so nett, die Kopien von Elsas Übersetzung an Euch zu verteilen.
Ein korpulenter als psychiatrischer Fall Erkennbarer, verteilte den Text an die Anwesenden, auch an mich. Sie wissen, wertes Zentralkkomitee, ich habe niemals Romane gelesen, siehe auch oben. Die besagten Fragmente jedoch aus der Feder des Teheraner Schriftstellers und psychiatrischen Falles habe ich aufbewahrt. Sie handeln nämlich von jener Person, in die ich, wie schon am Anfang des Breifes gesagt, die größten Hoffnungen setze, was die bevorstehende Revolution anbelangt – und präsentiere ich Ihnen die in Rede stehenden Passagen, die in Form therapeutischer Protokolle einer sogenannten Poesietherapie abgefaßt sind, was auch immer das sein soll.




Freitag, 28. Dezember 2007

Werte Leser, das ist ein Weblog und wird daher sozusagen von unten nach oben gelesen. D. h. der neueste Beitrag ist oben, die älteren weiter unten ...

Mist!
Bevor ich mich ganz meinem Ärger zuwende, möchte ich mich herzlich bei A. Maria Puchheim
für seinen
Kommentar bedanken. Nicht wegen seiner wohlwollenden Behandlung meiner hier veröffentlichten Texte, vielmehr wegen der literarischen Qualität seines Kommentars.
Und nun zum Gegenstand meines Ärgers: Jemand hat mir gesagt, ich sollte hier lieber nicht zuviele Teile meines im Entstehung begriffenen Romans veröffentlichen, weil ja sonst kein Verlag ...
Das ärgert mich jetzt. So sehr, daß ich mich mit dem Gedanken trage, diese verdammten Verlage allesamt zu boykottieren und meinen Roman überhaupt nicht ... Allerdings wäre ich dann in der gleichen Position wie der monologisierende Erzähler in Gustavs Ernsts Roman "Grado, Süße Nacht" (Deuticke 2005 glaube ich), der das ganze Buch lang einer deutlich jüngeren Dame, die er gerade erst kennengelernt und zum Essen ausgeführt hat, zu erklären versucht, warum er keinesfalls mit ihr zu schlafen gedenkt, obwohl diese ja überhaupt nicht ...
Na ja. Muß mir das alles noch gründlich überlegen.

Derweil ein älterer Text von mir, der mit dem Roman nichts zu tun hat. Die Geschichte meines Dünnseins.

Was das Foto betrifft: Man beachte - von wegen Dünnsein -
die Zahnstocher ...


Die Geschichte meines Dünnseins

Teheran

Der erste Mensch, der mein Dünnsein entdeckte, war meine Mutter. Lange Zeit glaubte ich, mein Dünnsein zeige sich ausschließlich ihren Augen und hielt es für ausgeschlossen, daß irgend ein anderer Mensch fähig wäre, es wahrzunehmen. Wenn andere Menschen über mein Dünnsein sprachen, was gelegentlich vorkam, glaubte ich, meine Mutter hätte ihnen von meinem Dünnsein erzählt, ohne daß sie selbst in der Lage wären, es wahrzunehmen.
Später wurden meine Ansichten über die Fähigkeit der Leute, mein Dünnsein zu erkennen, gemäßigter. Ich dehnte den Kreis der Menschen, denen ich die Wahrnehmung meines Dünnseins zutraute, auf erwachsene Menschen mit besonderen Wahrnehmungsfähigkeiten aus. Noch später wurde mir klar, daß praktisch jeder Erwachsene in der Lage war mein Dünnsein zu erkennen.
Nach meiner Einschulung in der Deutschen Schule Teheran wurden meine Ansichten über die Fähigkeit der Leute mein Dünnsein zu erkennen nochmals erschüttert. Eines Tages, es muß in der ersten Schulstufe gewesen sein, gingen meine Klassenkameraden und ich mit unserer Klassenlehrerin Frau Howe irgendeinen Weg im Gelände der Schule. Wir gingen in einer zweier Reihe und hielten uns an den Händen. Ich trug ein oranges T-Shirt mit afrikanischen Motiven und kurzen Ärmeln, das mir Tante Sima, die Mutter meiner altklugen Kousine Sepide, aus Kenia mitgebracht hatte. In einem überdeckten Gang zwischen zwei Klassenzimmern sagte meine Kollegin Barbara, die ich bei der Hand hielt, „Wie dünn Deine Arme doch sind!". In diesem Augenblick wurde mir klar, daß ich in einer Welt lebte, in der nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder - zumindest manche mit Einsicht begabte Kinder - mein Dünnsein erkennen konnten und daß es in einer solchen Welt gefährlich war, mit kurzen Ärmeln herumzulaufen.
Nach wie vor jedoch war meine Mutter jene Person, die sich die meisten Gedanken über mein Dünnsein machte. Es kränkte sie, daß ausgerechnet ihr Sohn so außerordentlich und unabänderlich dünn war und sie suchte nach Gründen dafür. Sie entwickelte zu verschiedenen Zeiten verschiedene Theorien über die Entstehung meines Dünnseins und manchmal auch zwei oder mehr davon zur selben Zeit. Einerseits glaubte sie, daß ich zu viel Energie hätte, die ich jedoch ständig in viel zu hohem Ausmaß und viel zu schnell verlieren würde. Andererseits sah sie den Grund meines Dünnseins in einer schlechten oder unzureichenden Nahrungszufuhr. Wenn ihre Stimmung trübe war wurde sie fatalistisch und machte unabänderliche Faktoren wie meinen Knochenbau, meinen Hormonhaushalt oder einen mysteriösen Fluch, der seit den Zeiten Soltan Sanjar's auf unsere Familie lasten soll, für mein anhaltendes Dünnsein verantwortlich.

Mein Kinderarzt Dr. Adham, ein sympathischer Mann mit einem unüberhörbaren Isfahaner Dialekt, den ich, soweit ich mich erinnere, nie ohne eine Pfeife im Mund sah, wog mich alle zwei Monate. Jahrelang überschritt ich die 20-Kilogrenze nicht, zumindest nicht nach oben. Dr. Adhams Reaktionen auf mein Dünnsein waren gemäßigter als diejenigen meiner Mutter, wenn auch nicht weniger wechselhaft. Manchmal meinte er, indem er andeutete, die Bedenken meiner Mutter zu verstehen, sie aber gleichzeitig zerstreuen zu wollen, daß ich zwar für mein Alter zu dünn, aber Choda ro Schokr - Gott sei Dank - ein gesundes Kind sei. Dann wieder, sah er sich veranlaßt weitreichende diätetische Maßnahmen wie die regelmäßige Zufuhr von Lebertran, Fladenbrot oder großen Mengen an Klobasse, zu empfehlen.
Wenn es Streit gab, nannten mich meine Spiel- , Straßen und Klassenkameraden Laghar mordani, was wörtlich übersetzt „magerer, todgeweihter Mensch" bedeutet. Im Persischen klingt Laghar mordani weniger schlimm als es die deutsche Übersetzung vermuten läßt, aber es war für mich Anlaß genug mir ernsthafte Sorgen über mein Gewicht zu machen. Es beruhigte mich ein wenig, daß ich aus der Art wie man in unserer Klasse mit Termeh, einer Klassenkollegin umging, schließen konnte, daß nicht Dünnsein sondern übermäßiges Dicksein das größte denkbare Übel war. Des weiteren gab es in meiner Umgebung erwachsene Menschen, die mich nicht als dünn ansahen, sondern als sarif, zu deutsch „zartgliedrig“. Andererseits entnahm ich den Äußerungen Erwachsener, sowie gelegentlichen Lektüren von Teheraner Frauenillustrierten, daß „Zartgliedrigsein“ eine Eigenschaft war, die man hauptsächlich von jungen Mädchen und Frauen erwartete.
Zu jener Zeit sendete das persische TV eine Nachmittagsserie, die Aghaje Motale’e hieß. Obwohl sie in den 70er Jahren gedreht vorden war, war Aghaje Motale'e, zu deutsch „Herr Leseratte“, den stummen amerikanischen Slapstikkomödien der 20er Jahre nachempfunden. Aghaje Motale’e war ein mittelgroßer, sehr dünner Mann mit einem schwarzen Chapeau, einem schwarzen Anzug, einem Schnauzer und einer Brille mit einer dicken schwarzen Fassung. Ich kann mich an keine einzige Szene erinnern, in der Aghaje Motale’e nicht las. Er las beim Autofahren, beim Essen, beim Spazierengehen, sogar dann, wenn er eine Frau in den Armen hielt.
Die Tatsache, daß Aghaje Motale’e gelegentlich eine Frau in den Armen hielt, ermutigte mich, da ich mich mit ihm, der ständig las, und ausgesprochen dünn war, identifizieren mußte. Im übrigen hatte ich Ermutigung dringend nötig. Mehr und mehr zog ich mich von meinen Klassen- und Straßenkameraden zurück, und tauchte in eine andere Welt ein. Aghaje Motale’e war nur die Spitze des Eisbergs. Den Eisbergkörper bildeten Fernsehserien wie Boschghab parandeh (UFO), Sarsamine Adjajeb, "Walt Disneys Welt", Tarzan und Bücher wie "5 Freunde", "Dr. Doolittle" und Kindermagazine wie Keyhane Batscheha und Mickey Mouse.

Auch meine erste Liebesbeziehung habe ich dieser Welt zu verdanken: Meine erste Liebe war nämlich ein Buch. Kein gewöhnliches Buch, sondern das persische Nationalepos, Schahnameh, das „Buch der Könige“. Als ich sie kennen und bald darauf lieben lernte, war die Schahnameh gerade 1063 Jahre alt geworden. Ferdosi hatte 30 Jahre auf ihre Erschaffung verwandt, um die Kultur und Sprache Persiens nach der islamischen Eroberung zu retten. Die Schahnameh enthält in tausenden Versen die Geschichte Persiens von den mythischen Dynastien, bis zur Eroberung durch die Araber. Sie wird von Königen, Helden, Prinzessinen, Magiern, Drachen und Dämonen bevölkert, die alle den Vorteil hatten, für mein Dünnsein kein Erkenntnisorgan zu besitzen. Ich liebte diese Wesen und ihre Schicksale so sehr, daß ich ihnen ewige Treue schwor. Ich beschloß mein Leben der Dichtkunst im allgemeinen und der Schahnameh im besonderen zu widmen.
Außerdem entwickelte ich damals - vielleicht, weil ich Fotografien des persischen Schriftstellers Hedajat, der 1952 durch Selbstmord aus dem Leben geschieden war, gesehen hatte - die Vorstellung, daß Dichter in der Regel dünne Menschen seien.
Meine Großmutter, eine fröhliche Matrone mit melonengroßen Brüsten, pflegte immer dann, wenn sie eine Partie Back-Gammon verloren hatte, meinen Großvater zu beschuldigen, geschummelt zu haben. Nachdem sie ihn eine Zeit lang beschimpft hatte, beruhigte sie sich, ihre Stimmung hob sich und sie meinte „Schahnume Acharesch chosche“, zu deutsch: „Die Schahname endet gut.“, womit sie zu verstehen gab, daß sie zwar die Schlacht, aber keineswegs den Krieg verloren hatte, denn im persischen Back-Gammon gewinnt derjenige, der 5 Partien für sich entscheidet.
Für dieses von meiner Großmutter täglich gebrauchte Sprichwort gibt es zwei deutsche Entsprechungen:

1. Ende gut alles gut.
2. Das dicke Ende kommt noch.

Das dicke Ende meiner Liebe zur Schahnameh kam, als wir im Persischunterricht der 5. Schulstufe ein Kapitel über den Sport durchzunehmen hatten. Die Lektion begann mit einem Loblied auf die sportlichen Leistungen der Finnen (ich habe keine Ahnung, warum gerade der Finnen) und behandelte dann die gesellschaftliche Bedeutung des Sports im allgemeinen und den olympischen Gedanken im besonderen. Gegen Ende der Lektion fand sich ein Zitat von der Schahnameh, worin es sinngemäß hieß, „daß einem mißgestalteten Körper nur Böses, Lug und Trug entspringen könne“. Obwohl der Vers weder über mich, noch über mein Dünnsein sprach, empfand ich ihn als persönliche Beleidigung. Ferdosi und seine Schahnameh hielten also mich und meinesgleichen für unfähig Gutes zu tun oder auch nur zu denken. Ich empfand das als einseitige Liebesaufkündigung und lief tagelang mit gebrochenem Herzen und mit dem Gesicht eines verlassenen Liebhabers herum.
Ich brach den Kontakt zur Schahnameh zwar nie vollständig ab, zwischen uns stellte sich aber nie wieder das ungetrübte Gefühl der frühen Jahre ein. Was blieb war meine Liebe zur Literatur und die Vorstellung, Dichter seien, wenn es mit rechten Dingen zugeht, dünne Menschen.
Im Sommer 1972 unternahm ich meine erste zaghafte Expedition in das Reich der Dichtung oder dorthin wo ich es vermutete. Ich übersetzte das gereimte österreichische Kinderbuch „Hatschi Bratschis Luftballon“ in persische Reime. „Hatschi Bratschi“ war ein dicker böser Orientale, der unschuldige europäische Kinder mittels Heißluftballon ins Morgenland entführte. Ich wurde als literarischer Wunderknabe bekannt und eines Tages lud mich eine Reporterin der Teheraner Fernsehzeitschrift „Tamascha“ zum Interwiew. Nach dem Gespräch an dem auch meine Mutter, mein Vater, mein Großvater - Gott habe ihn selig - und meine Persischlehrerin teilnahmen, teilte mir die Reporterin mit, daß sie als Angehörige der Kulturredaktion Zugang zu sehr guten in- und ausländischen Büchern hätte. Sollte ich diesbezügliche Wünsche haben, könnte sie sie mir erfüllen. Da sich schon damals leise Zweifel an meiner Hypothese vom Dünnsein der Dichter zu hegen begann, antwortete ich, daß ich sehr an Büchern, noch mehr jedoch an Fotografien berühmter in- und ausländischer Schriftsteller interessiert sei, und nannte einige Namen. Die Fotografien sollten aber nicht wie üblich nur die Gesichter, sondern den ganzen Körper der Dichter zeigen. Im übrigen wäre es mir sehr recht, wenn die abgebildeten Herren (mit dem Körper von Dichterinnen identifizierte ich mich als Junge weniger) so spärlich wie möglich bekleidet seien.
Mein Vater und meine Persischlehrerin erzählten mir später unabhängig voneinander, daß die Journalistin der „Tamascha“ rot geworden war und verlegen gelächelt hatte. Ich selbst hatte es mir angewöhnt, die Menschen, wenn sie mit mir sprachen, nicht anzusehen.

Eine Woche nach dem Interwiew wurde mir per Post ein Paket zugestellt. Es enthielt eine Sammlung indischer Göttersagen sowie die persische Übersetzung des Kunstmärchens „Die verliebte Wolke“ des türkischen Schriftstellers Nazim Hikmet. Auf dem Umschlag der „Verliebten Wolke“ war eine Fotografie von Hikmet zu sehen. Es zeigte nur das Gesicht des Schriftstellers, aber es war unzweifelhaft klar, daß dieses Gesicht zu einem athletischen Körper gehörte. War es also am Ende falsch, daß Dichter allesamt dünne Menschen waren?
Wenn dem so war, dann waren nicht einmal Dichter, diese Bewohner einer fernen Sphäre, in der Gewichte und Körper keine Rolle zu spielen hatten, meinesgleichen. Immerhin gab es aber noch die Möglichkeit, daß es sich bei Nazim Hikmet um eine Ausnahme handelte, und es gab einen Umstand, der diese Vermutung stützte. Trotz seines romantischen Titels war „Die verliebte Wolke“ eine politische Parabel. Seine politische Tendenz mußte sogar einem 10-jährigen Teheraner Jungen aus einem apolitischen Elternhaus ins Auge springen. Nazim Hikmet, der berühmte türkische Schriftsteller war also ein Kommunist!
Für die damalige persische Regierungspropaganda waren Kommunisten irregeleitete, gefährliche Menschen, die man einsperren, umerziehen und fallweise hinzurichten hatte. Mangels alternativer Informationen teilte ich diese Meinung. Zugleich erweckte das Wort „Kommunist“ in mir und in meinen Altersgenossen Neugier und Faszination. Daß ein Kommunist zugleich Dichter, noch mehr, daß ein Dichter zugleich Kommunist sein konnte, verwirrte und verwunderte mich ungemein. In meiner Vorstellung - ich hatte nie, nicht einmal im Fernsehen, einen leibhaftigen Kommunisten gesehen - war ein Kommunist ein zwanzig bis dreißigjähriger junger Mann mit dunklen langen Haaren, einem grimmigen, unrasierten Gesicht, einer Parkajacke und einer MP. Er bewohnte die gebirgigen Wälder nördlich von Teheran und verübte dann und wann einen Terroranschlag.
Ein solcher Kommunist konnte natürlich nicht dünn und schon gar kein Dichter sein. Er mußte kämpfen können. Ich folgerte, daß Nazim Hikmet ein Kuriosum war: Gott hatte ihm die Seele eines Poeten und den Körper eines kämpfenden Kommunisten gegeben. Jetzt (Ich wußte nicht, daß er damals schon tot war) kämpfte er mit der Feder um soziale Gerechtigkeit. Ich folgerte weiters, daß es

1. Menschen gab, die sowohl Kommunisten, als auch Dichter sein konnten, und daß es sich
2. bei dieser Sorte Menschen um Personen handeln mußte, die nicht dünn sein konnten.

Wie viele meiner anderen Überzeugungen im Zusammenhang mit meinem Dünnsein mußte ich mit der Zeit auch diejenige vom Zusammenhang zwischen dem Dichtersein und dem Dünnsein, sowie die Vorstellung, daß alle dichtenden Kommunisten respektive Sozialisten nicht-dünne Menschen seien, völlig aufgeben. Ich mußte zur Kenntnis nehmen, daß es zum einen nichtsozialistische Dichter gab, die nicht dünn waren, wie z.B. Ernest Hemingway, Honoré de Balczac, Wolfgang Bauer. Zum anderen sozialistische, die dünn waren, wie etwa Bertold Brecht. Zusammen mit der einseitigen Liebesaufkündigung seitens der Schanameh, zwangen mich diese Erkenntnisse, mein Verhältnis zur Dichtkunst grundsätzlich zu überdenken. Ich gab schließlich den Gedanken auf, einzig zum Dichter bestimmt zu sein.

Graz

Kurz darauf übersiedelte ich mit meinen Eltern von Teheran nach Graz. In Graz war mein bester Freund mein Klassenkollege Robert Filz. Er war noch dünner als ich und wir beide zusammen wogen weniger als der drittdünnste Bursche in der 3a des Akademischen Gymnasiums. Das allerdings nur deshalb, weil Lippmann - so hieß der drittdünnste Bursche der 3a - übermäßig groß war.
Wenn ich an Filz denke, fällt mir als erstes sein eigenartiges Gesicht ein. Sein Schädel war ein spitzes Oval, er hatte eine blaßgelbe Gesichstfarbe, Schlitzaugen und eine immens hohe Stirn. Filz wurde später Physiker, was sich schon in der Mittelschulzeit abzeichnete. Er war Legastheniker und hatte enorme Probleme in Deutsch, Latein, Französisch und Englisch. Aber in naturwissenschaftlichen Fächern, wie Biologie, Physik und Chemie sowie in Mathematik war er genial. Er stellte eigene Hypothesen auf, hinterfragte die fundamentalsten Dinge und brachte die Lehrer, denen er die kompliziertesten Fragen stellte, immer wieder in Verlegenheit. So wurde er gerade für jene Lehrer, die seine Lieblingsfächer unterrichteten, zum roten Tuch. Jedesmal, wenn Robert Filz die Hand hob, um etwas zu sagen, taten sie, als ob sie ihn nicht sehen würden, oder winkten mit weit ausholenden wegwerfenden Gesten ab.
Robert Filz war dünn, aber er war auf eine kantigere Art dünn als ich. Sein Körper schien aus Stahl oder zumindest aus Draht gebaut zu sein. Aber seine Finger waren fein, beinahe weich und ich entwickelte die Vorstellung, daß er eine weiche Seele besaß, die sein dünner Körper nur dann schützen konnte, wenn er sich entschloß aus Stahl oder zumindest aus Draht zu sein.
Von der vierten bis zur sechsten Klasse der Mittelschule war Robert Filz mein unmittelbarer Tischnachbar. Wir saßen wandseitig am ersten Tisch der dritten Reihe. Es war eine beschissene Zeit. Ich war dünn und unsportlich und kam aus Teheran, einem vollkommen weißen Fleck auf der inneren Landkarte meiner Mitschüler und Lehrer. Das wenige, was sie über meine Heimat zu wissen glaubten, war auf eine schmerzhafte Art dumm. Sie fragten mich ob Persien ein Teil Sibiriens sei und ähnlichen Unsinn. Später erfuhr ich, daß ich im falschen Jahrhundert von Teheran nach Graz gezogen war. Wäre ich im neunzehnten statt im zwanzigsten Jahrhundert nach Österreich gekommen, hätten meine Mitschüler ein kultivierteres Bild von meiner Heimat gehabt. Sie hätten Goethes Diwan gelesen, hätten Rückert, Platen oder Kellers Hafes-Lieder gekannt oder sie hätten zumindest gewußt, daß der Sarastro der Zauberflöte eine Verballhornung von Zarathustra war. Ich glaube des weiteren, daß sich Nietzsche nicht ausgerechnet über Zarathustra hergemacht hätte, wenn der für die Gebildeten seiner Zeit keine bekannte Größe gewesen wäre.
Robert Filz hatte mit persischer Lyrik wenig im Sinn. Er interessierte sich, obwohl er später Physiker wurde, für chemische Experimente und für Motorräder. Im Keller der Wohnung seiner Eltern hatte er in einem Zimmer zwei große alte Schreibtische aus dunklem Holz hingestellt, auf denen Pipetten, Phiolen und Bunsenbrenner standen. Ich verstand wenig von Chemie, weshalb Robert Filz über das, was er im Keller trieb nie mit mir redete. Nur einmal verriet er mir, daß er monatelang die ganze Stadt nach gelbem Phosphor abgesucht hatte. Der Verkauf von gelbem Phosphor an Jugendliche war wegen der hohen Explosionsgefahr verboten. Filz' Hartnäckigkeit in naturwissenschaftlichen Dingen beeindruckte mich, vor allem weil ich selbst sie nicht besaß.
Auch was die Liebe betrifft war Robert Filz aus anderem Holz geschnitzt als ich. All die Jahre war er in eine gewisse Gertraud Janisch verliebt. Die Janisch war blond und rund aber gerade so rund, daß wir sie nicht als fett empfanden. Wir hielten sie für hübsch. Zu Weihnachten schenkte ihr Filz jedes Jahr Schmuck. Ich nehme an, daß der Schmuck, gemessen an Filz' Taschengeld teuer gekauft war, aber ich weiß nicht wie die Gertraud auf Roberts Geschenke reagierte. Sie sprach niemals mit ihm, zumindest nicht in meiner Gegenwart. Daß sich die Gertraud für den Filz interessieren könnte, galt allerdings in der 3a des Akademischen Gymnasiums ohnehin als ausgeschlossen, weil der Filz nicht nur dünn war, sondern eine dicke Plexiglasbrille und zwei dünne Schlitzaugen besaß. Des weiteren war seine Stirn, wie gesagt, derart hoch, daß er glatzköpfig aussah.
Andere Burschen in der 3a waren für die Mädchen interessanter. Beim Peter Streck konnte ich das noch verstehen. Der Streck war groß, blond, braun gebrannt, sportlich, nicht dumm, nicht ungutmütig. Sogar eine unserer Lateinlehrerinnen, eine höchst exzentrische Person namens Nowak, gab an, sie hätte sich, wäre sie jünger gewesen, in den Streck verliebt. Da gab es aber noch den erwähnten Gerd Lippmann, der genauso dünn war, wie Filz und ich, nur viel größer. Trotzdem gehörte er zu den bei den Mädchen beliebten Burschen in der Klasse. Vielleicht, hing das mit dem Umstand zusammen, daß Lippmann sämtliche in Graz auffindbare Beatles-Platten besaß und darüber hinaus Schlagzeug spielte. Andererseits hatte er einen auffallend großen Adamsapfel und ein dümmliches, aufgeblasenes Gesicht. Lippmann wurde später Jurist. Fritz Guggi, ein anderer der beliebten Burschen in der 3a des Akademischen Gymnasiums in Graz, war mir zwar lieber als der Lippmann, aber wesentlich unschöner. Er hatte eine eigenartige Haarfarbe - eine Mischung aus grau, braun und blond - und den Blick eines todmüden Hundes. Er trug immer dieselbe vergilbte blaue Baumwollweste. Auf seinem pickelübersäten Gesicht zeigten sich kaum je Gemütsbewegungen. Vielleicht gab ihm das etwas von Humphrey Bogart und vielleicht veranlaßte diese Ähnlichkeit Waltraud Janisch, die Zwillingsschwester der Gertraud Janisch, die ebenfalls in die 3a ging, sich in ihn zu verlieben.
Robert Filz und ich gehörten jedenfalls nicht zu beliebten Burschen der 3a. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, daß sich je irgendein Mädchen aus unserer Schulklasse in einen von uns verliebt hätte oder auch nur Gefallen an uns gefunden hätte. Die einzige Ausnahme bildete Maria Knoch. Sie war eine Zeit lang meine Tischnachbarin, war größer als ich und hatte kurze dunkelbraune Haare. Maria Knoch galt als Außenseiterin, weil sie stets steirisch angezogen war und Märchen erfand. Auch mir gefiel sie nicht, aber nicht wegen ihrer Märchen oder ihrer steirischen Kleidung, sondern wegen ihres Aussehens. Obwohl sie einmal gesagt hatte, daß sie niemals einen Perser heiraten würde, gab es Hinweise , daß ich ihr eine Zeit lang gefallen hatte. Einmal holte sie mich von zuhause ab, um mit mir auf die Grazer Herbstmesse zu gehen und brachte mir eine Tafel Finessa-Schokolade mit. Ob irgendeine meiner Klassenkameradinnen je auf den Filz scharf gewesen ist, ist sehr zu bezweifeln.
Ich selbst verliebte mich, kaum daß ich nach Graz gekommen war, in meine hübsche Klassenkollegin Antonia Benedini. Sie war italienischer Abstammung, sah aber mit ihren sehr langen, dunkelblonden Haaren sehr deutsch aus. Genauso wie ich, war sie gerade mit ihren Eltern aus dem Ausland, nämlich aus Deutschland, nach Graz gezogen. Ich vermochte diese Gemeinsamkeit unter anderem deshalb nicht auszunutzen, weil sie mich nie ansah.

In der vierten Mittelschulstufe verliebte ich mich in Antonias Freundin Uta Waldmann, weil sie weniger hübsch war und ich mir bei ihr größere Chancen ausrechnete. Ich lud sie auf Anraten von Filz ins Kino ein, was sie aber entrüstet ablehnte. Einen Tag später beschloß ich, mich in die Waltraud Janisch, die Schwester der Gertraud Janisch zu verlieben. Sie redete wenigstens gelegentlich mit mir, meistens bat sie mich ihr von Gerd Guggi, in den sie wie gesagt verliebt war, zu erzählen, oder ihm irgendwelche Dinge auszurichten. Nach einiger Zeit verliebte ich mich der Reihe nach in die Katja Ramschitz, die Birgit Kramer und die Isabella Lechner, sah dann aber schließlich ein, daß mit den Mädchen unserer Klasse kein Staat zu machen war und verliebte mich fortan nurmehr außerhalb der Schule.
Verständlicherweise machten mich diese dauernden Mißerfolge nicht sehr glücklich, aber ich wäre noch viel unglücklicher gewesen, wenn sich mein Freund Filz, über sein Interesse für die Gertraud Janisch und naturwissenschaftlichen Experimenten hinaus, nicht auch für höhere Dinge interessiert hätte. Es gibt nämlich keinen dünnen Menschen, der nicht einen Sinn für Philosophie, Metaphysik oder Religion entwickelt. Da mein Freund Robert Filz besonders dünn war, war er auch besonderes stark an solchen Dingen interessiert. Über Religionen diskutierten wir viele Tage und Nächte, vor allem darüber, warum es so viele davon gibt. Ich war, angeregt durch meinen intellektuellen Kousin Soheyl, zu der Überzeugung gekommen, daß es nur einen Gott geben konnte, der sich je nach dem Entwicklungsstand der Menschen in den verschiedensten religiösen Formen manifestierte. Meinem Freund Filz gefiel diese „religiöse Evolutionstheorie“, wie er sie nannte, ausnehmend gut, und er sah in mir eine Art Guru. Das machte mich glücklich und entschädigte mich ein wenig für mein Dünnsein, mein Fremdsein und für mein andauerndes Unglück in der Liebe zu den Mädchen.

Wien

Ich war sechzehn als meine Eltern aus geschäftlichen Gründen von Graz nach Wien übersiedelten. Zu meinem Freund Robert Filz verlor ich jeglichen Kontakt. Nur einmal traf ich ihn, beim fünfjährigen Maturatreffen meiner ehemaligen Grazer Klassenkollegen wieder. Ich selbst hatte die Matura in Mödling bei Wien gemacht.
Zur Zeit als ich die Matura machte, war ich immer noch dünn. Darüber hinaus hatte ich den Ansatz eines Schnauzbartes und war Brillenträger. Ich hatte aber anders als Aghaje Motale’e eine Brille mit einem massiven Metallrahmen und viereckigen Gläsern aus dickem Plexiglas.
Im Mödlinger Gymnasium, machte ich die Erfahrung, daß ich, ähnlich wie bei Robert Filz, bei meinen neuen Klassenkollegen als „Intellektueller“ punkten konnte. Was „Intellektualität“ ist, und wie sich ein Intellektueller zu verhalten hatte, das hatte ich von meinem Kousin Soheyl gelernt, aber das ist eine andere Geschichte.

Nach der Matura stand die Berufswahl an. Ich war mir bewußt, daß ich von der Beschäftigung mit meinem Dünnsein, die den Großteil meiner Zeit in Anspruch nahm, nicht leben konnte. Neben meinem Wunsch Dichter werden zu wollen, hatte ich als Kind in Teheran nacheinander und in wechselnder Intensität drei Berufswünsche gehabt: Indianerhäuptling, Astronaut, Sportler. Meine Liebe zum Sport war in Teheran soweit gegangen, daß ich in meinem Zimmer nach dem Vorbild der Asiatischen Olympiade 1974 in Teheran ausgedehnte Phantasieolympiaden veranstaltete, bei denen ich selbst die Sportler, die Trainer, das Publikum und den Reporter gab. Von den imaginierten ostasiatischen Sportlern, die klangvolle Namen wie Tsi-Tan, Wey-Tu oder Scho-Mi-tsu bekamen, war ich so angetan, daß ich mir mit der Zeit einbildete ihre Gesichter, ihre Familie und ihre Heimatorte zu kennen. Aber mit den Jahren war mir klar geworden, daß ein dünner Mensch, der Brillenträger und Bücherwurm war, weder Sportler, noch Astronaut, noch Indianerhäuptling werden konnte.
Ich mußte also studieren. Was studiert aber ein außerordentlich dünner Mensch, der den Glauben an die Dichtkunst verloren hat, eine Plexiglasbrille und einen Schnauzbart trägt? Mich intressierten Philosophie, Sprachen, Geschichte, Literaturwissenschaften oder Psychologie und für jedes dieser Fächer hätte ich eine ganze Menge Talent mitgebracht. Entscheidend war aber eine anderer Gedanke: Wenn ich schon nicht die Schahnameh studieren konnte, dann mußte sich das Studium wenigstens lohnen - das bedeutet finanziell lohnen.
So beschloß ich Medizin zu studieren.
Was in den medizinischen Lehrbüchern stand, konnte mich nicht recht begeistern. Sie konnten weder der Schahnameh noch anderen Werken der persischen oder der Weltliteratur das Wasser reichen. Erst der Seziersaal und das Studium anatomischer Bücher machten mich neugierig. Ich erfuhr, daß am Skelet des Menschen, an seinen Extremitäten und an seinem Rumpf, zahllose Muskeln mit je ganz bestimmten Formen und Funktionen ansetzten. Abgesehen von Geschlechtsdifferenzen und geringfügigen Normvarianten, sollte es diesbezüglich keine Unterschiede zwischen den Menschen geben. Ich schaute meine Arme und Beine an, betatstete meinen Bauch und staunte. Wie war es möglich, daß hunderte Muskeln an meinen Knochen hingen und das Ergebnis so kläglich war? Hatte Gott meine Muskeln nur ansatzweise und als Alibi angelegt? Warum hatte er das getan? Wo blieb seine Gerechtigkeit, ganz zu schweigen von seiner Freigebigkeit und Barmherzigkeit? Ich erinnerte mich daran, daß es Millionen Menschen gab, denen es noch viel schlechter ging: Hungernde Kinder, verlassene Frauen, Behinderte, Blinde, Gelähmte. Aber diese Gedanken konnte mich niemals trösten. Sie machten mich nur noch trübsinniger.

Irgendwer - war es Nietzsche?- hat gesagt, daß die großen Veränderungen auf Taubenfüßen kommen, wie Diebe in der Nacht. Ohne daß ich es zunächst merkte, hörte irgendwann mein Dünnsein auf mich zu beschäftigen. Es war Sommer, gegen Ende meines Medizinstudiums. Mein Desinteresse an meinem Dünnsein fiel mir erst auf, nachdem ich längere Zeit hindurch ärmellose T-Shirts getragen hatte und ohne weiteres an Orten, an denen ich erwarten konnte, Bekannte anzutreffen baden gegangen war. Im Herbst desselben Jahres geschah etwas noch ungewöhnlicheres: Ich lernte die Beate Uhland kennen, eine blonde Krankenschwester mit einem rundlichen Körper und vorstehenden Zähnen. Für ihr Aussehen gilt dasselbe, was ich weiter oben über Robert Filz' Angebetete Gertraud Janisch gesagt habe. Ich fand sie hübsch und ihr Rundlichsein erregte mich maßlos. Ich stellte mir vor, daß, da ich dünn und die Beate Uhland rundlich war, unsere Beziehung ausgeglichen, ja ideal sein müßte. Im Halbschlaf stellte ich mir unsere Beziehung als Person aus Fleisch und Blut vor. Unsere personifizierte Beziehung war androgyn, athletisch, muskulös. Sie hatte eine helle, leuchtende Haut und ihr Haarfarbe oszillierte zwischen hellblond und pechschwarz. Ich verliebte mich in diese Beziehungs-Person - und in die blonde Beate Uhland selbst. Das an sich war nichts ungewöhnliches. Ich hatte mich im Laufe meines bisherigen von meinem Dünnsein bestimmten Leben nacheinander in die Schahnameh, die Antonia Benedini, die Uta Waldmann, die Waltraud Janisch, die Katja Ramschitz, die Birgit Kramer und die Isabella Lechner verliebt, um nur einige wenige wichtige Namen zu nennen. Ich war aber nie auf Gegenliebe gestoßen. Sogar die Schahnameh hatte mich zurückgewiesen.
Beate Uhland jedoch liebte mich. Sie liebte mich mit einer Intensität, die mich zuerst glücklich und dann sehr ängstlich machte, denn anders als die Schahnameh war die Beate Uhland ein Wesen aus Fleisch und Blut. Sie hatte Bedürfnisse, sie stellte Ansprüche. Sie wollte mit mir ins Bett gehen. Ich aber hatte - im Gegensatz zu ihr - keinerlei Erfahrung mit der körperlichen Liebe. Was nicht heißen soll, daß ich abgeneigt gewesen wäre, mit dieser hinreißenden Person all die Dinge zu tun, die auch sie mit mir tun wollte. Immerhin war ich trotz meines eklatanten Dünnseins ein 24 jähriger Mann, ausgestattet mit einer genügend hohen Menge männlicher Triebenergien und einer sehr großen Menge angestauter Sehnsucht nach Frauen - nach den Körpern der Frauen, um genauer zu sein.
Aber an jenem Abend, an dem ich mit der blonden und rundlichen Krankenschwester Beate Uhland am Wiener Donaukanal entlangspazierte und sie mir mitteilte, daß sie niemals mit einem Mann ausgehen würde, ohne etwas von ihm zu wollen, mußte ich noch einmal - zum ersten Mal seit langem wieder - an mein Dünnsein denken. In meinem Kopf nahm die Anatomie meines Körpers Gestalt an und ich erinnerte mich daran, daß mir an jedem vorderen oberen Darmbein ein je ganz besonders spitzer, hervorspringender Knochenfortsatz zu eigen war, der, sobald unserer beider Sehnsucht in Erfüllung ginge, sich in das nackte Fleisch meiner hübschen Freundin bohren und sie vor lauter Schmerz in Ohnmacht versetzen würde.

Seit langem bin ich nicht mehr dünn. Ich habe mein Dünnsein in der Zeit, in der ich mit der rundlichen Beate Uhland zusammen war verloren, aber die Angst, die spitzen knöchernen Vorsprünge meines in meiner Vorstellung noch immer sehr dünnen Körpers könnten sich in die Frauen, die sich mir hingeben, bohren und sie für immer verunstalten oder töten, werde ich für immer behalten.